PNP-Spendenaktion
Neuanfang auf Ukrainisch

09.12.2022 | Stand 17.09.2023, 8:17 Uhr

In Sicherheit wiedervereint: Hanni (71) und ihre Enkelin Maryam (20) mussten sich in den Wirren der ersten Kriegstage alleine durchschlagen. Heute leben die beiden zusammen mit Maryams Eltern in einer Flüchtlingsunterkunft in Iwano-Frankiwsk im Südwesten der Ukraine. −Fotos: Korbinian Huber

Ihr Leben war russisch geprägt, bis Putin begann, ihre Heimat zu bombardieren. Musik-Studentin Maryam (20) und ihre Familie versuchen, sich nun im Westen der Ukraine ein neues Leben aufzubauen.



In Kiew herrschen Chaos und Panik, als Maryam in der Nacht vom 24. Februar den Club verlässt, in dem sie noch wenige Augenblicke zuvor ausgelassen mit Freunden gefeiert hat. Raketen schlagen in der Stadt ein. Niemand weiß so recht, was vor sich geht. Offenbar hat der Krieg begonnen.

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Ein Krieg, den es ihrer Ansicht nach im 21. Jahrhundert überhaupt nicht mehr geben dürfte und der das Leben von Maryam und ihrer gesamten Familie verändern sollte. Statt weiter Musik zu studieren, muss sie fliehen. Statt auszugehen und mit Freunden etwas zu unternehmen, lebt Maryam nun mit ihrer Familie in einer Flüchtlingsunterkunft. Doch dass die Familie überhaupt wieder zusammengefunden hat, grenzt an ein Wunder.

Maryam und ihre Familie sind zufrieden mit ihrem Zimmer im Oblast Iwano-Frankiwsk, wo sie untergekommen sind. Dort, in dem Regierungsbezirk im Südwesten des Landes, ist es vergleichsweise sicher. Rund neun Monate nach den ersten Kriegswirren haben sie wieder eine Heizung, genügend Essen, Strom und Internet. Der Raum ist klein, aber sauber, die Schlafplätze sind ordentlich gemacht. Ihre Eltern teilen sich ein Doppelbett, Maryam und ihre Großmutter Hanni haben ein kleines Einzelbett. Dazwischen stehen Schränke. Die vierköpfige Familie lebt auf kaum 20 Quadratmetern. Die Eltern sind gerade als ehrenamtliche Helfer unterwegs, Maryam und ihre Großmutter alleine in der Unterkunft, als wir sie besuchen.

Maryam ist 20 Jahre alt. Sie hat lange schwarze Haare und trägt einen kleinen Nasenring. Ihr Kleidungsstil lässt sich wohl am besten mit lässig-leger beschreiben, wie der vieler Studenten. Derzeit studiert sie Musik in Kiew – doch das geht nur online. Schuld daran ist der Krieg. Lange habe niemand damit gerechnet, dass Russlands Präsident Wladimir Putin diesen Schritt wirklich wagen wird. Doch er tat es. Und für Maryam änderte sich alles.

Aus Stunden im Keller werden Tage

Mit den ersten Detonationen in der ukrainischen Hauptstadt Ende Februar packen viele ihrer Freunde und Mitbewohner ihre Sachen und fliehen – die meisten nach Hause zu ihren Eltern. Für Maryam ist das jedoch keine Option. Denn: Ihre Familie lebt im Osten des Landes, nahe der Separatistenhochburg Luhansk. Kriegsgebiet. Außerdem hat sie kein Auto und die öffentlichen Verkehrsmittel haben den Betrieb bereits eingestellt. „Ich hatte große Angst und habe viel geweint“, erzählt sie – überraschend locker, frei aus dem Bauch heraus. Maryam scheint trotz der Kriegserlebnisse eine Frohnatur zu sein.

Aus ihrer Wohnung in Kiew packt Maryam das Nötigste zusammen und flüchtet in einen nahegelegenen Keller. Aus Stunden im Untergrund werden Tage. Die Anwohner unterstützen sie und die anderen Schutzsuchenden. Sie waschen ihre Wäsche und versorgen sie mit Lebensmitteln. Doch es gibt kaum Kontaktmöglichkeiten nach draußen. Was an der Oberfläche vor sich geht, kann sie nur erahnen. Doch auch im Keller ist die Lage dramatisch. Eine Frau erleidet einen epileptischen Anfall, eine andere – sie stammt aus dem Iran – bekommt dort ihr Kind.

Nach zwölf Tagen steht Maryams Entschluss fest. Sie muss den Keller verlassen – auch, weil sie ihre Familie wieder sehen will. Also organisiert sie mit der Hilfe des Freundes ihres Vaters ein Auto und fährt los, gen Süden.

Rund 800 Kilometer von Maryam entfernt, erleiden ihre Großmutter und die Eltern ein ähnliches Schicksal. Sie haben noch geschlafen, als am 24. Februar die ersten Raketen in der Ukraine einschlagen, sagt Großmutter Hanni. Sie ist 71 Jahre alt, hat kurze graue Haare und trägt ein bräunliches Kleid mit Blumenmuster.

Ihr gesamtes Leben habe sie im Osten der Ukraine gewohnt, weg wollte sie nie. Doch bereits Tage nach Kriegsausbruch wird in ihrem Heimatort scharf geschossen. Ihr Haus liege zwischen zwei Wäldern, erzählt sie: einem Eichenwald und einem Kiefernwald. In dem einen hätten sich ukrainische Soldaten vergraben, im anderen die Russen. Zu dieser Zeit habe sie permanent Raketeneinschläge und Gewehrfeuer gehört. Die Pausen dazwischen hätten kaum eine Stunde gedauert.

Also flieht auch Hanni in den Keller, genauer in den ihres Nachbarn. Dann ähneln sich ihre Geschichte und die ihrer Enkelin: Hanni kann sich nicht waschen, nicht schlafen, sich nicht mal umziehen. Hinzu kommt die zermürbende Müdigkeit, mit der die Seniorin zu kämpfen hat. Nach einigen Tagen beschließt auch sie, dass es in der Ost-Ukraine vorerst keine Zukunft mehr für sie gibt.

Ihr Schwiegersohn, ein Arzt – das betont sie häufig – und zugleich der Vater von Maryam organisiert den Abtransport. Sie müssen sich selbst in Sicherheit bringen und wollen ihre Enkelin und Tochter wiedersehen. Das habe für sie letztlich den Ausschlag gegeben, sagt Hanni. Dann geht es schnell: Sie hat zehn Minuten, um ihre Habseligkeiten zu packen, dann geht es los. Wie Tausende andere hat die Gruppe kein konkretes Ziel. Aber fest steht: Der Westen ist sicher und weit weg von Russland. Also brechen sie in diese Richtung auf.

Eltern und Großeltern wollen zunächst nach Kiew, um Maryam zu finden. Doch in die Stadt ist kein Durchkommen. Erst später finden sie heraus, dass Maryam Kiew bereits verlassen hat und mit einem Auto nach Süden unterwegs ist. Schließlich folgt das große Wiedersehen. In der Stadt Ternopil im Südwesten des Landes treffen Großmutter und Enkelin, Tochter und Eltern wieder aufeinander.

Moderne Unterkunft ist ein großer Segen für Familie

Nach einigen weiteren Unterkünften – manche waren in Ordnung, in vielen anderen war das Leben hart, sagen sie – landen alle im Oblast Iwano-Frankiwsk. Dort gefällt es ihnen – trotz der beengten Verhältnisse. Die vier Erwachsenen teilen ihr Zimmer nämlich auch noch mit einer Katze und Hund Snoopy.

Insgesamt beherbergt das Schutzzentrum, ein Komplex aus drei Gebäuden, 101 Menschen. 32 davon sind Kinder, erzählt uns Administrator Leonid. Er habe geholfen, das Camp mit aus dem Boden zu stampfen. Wo vor wenigen Monaten noch ein heruntergekommenes Bürogebäude stand, bietet die moderne Flüchtlingsunterkunft ihren Schützlingen heute alles, was sie zum Leben brauchen – sogar für etwas mehr ist Platz: Spielplätze. Kinderzimmer. Moderne Sanitäranlagen. Auf all das müssen viele andere Menschen in der Ukraine derzeit verzichten.

Möglich machen dies auch Spenden aus aller Welt. Hilfsorganisationen wie CARE Deutschland und ihr regionaler Partner Vostok-SOS unterstützen die Anlage im Südwesten der Ukraine.

Dennoch: Auf Dauer wollen Maryam, Hanni und die Eltern nicht in der Unterkunft bleiben. Eine eigene Wohnung in der Nähe fänden sie schön. Dann könnten die Eltern weiter als freiwillige Helfer arbeiten, Maryam weiter studieren. Und Hanni? Die könnte sich an die neuen Gepflogenheiten im Westen der Ukraine gewöhnen. Denn die fallen ihr noch immer schwer. Schließlich habe sie ihr gesamtes Leben im Osten verbracht. „Die Leute haben eine andere Mentalität“, sagt sie. Und sprachlich gebe es auch einige Unterschiede. „Aber wir lernen.“

Großmutter Hanni: „Nicht alle Russen wollen Krieg“

Doch froh ist sie, angekommen zu sein. Ihre Fluchterfahrung wünsche sie niemandem. Sie wolle einfach nur Frieden und glaube nicht, dass wirklich alle Russen den Krieg wollen.

Maryam möchte vor allem weiter studieren – vorerst online. Dazu muss sie manchmal nach Kiew. Doch sie hat noch genug Zeit, ihre eigenen Songs zu schreiben und aufzunehmen. Stolz zeigt sie ihre Instagram-Uploads. Auf der Online-Plattform ist sie auf mehreren Videos singend mit Gitarre zu sehen. Dass sie sozusagen ein Profi ist, wird schnell klar. „Muhomorrova“ lautet ihr Künstlername in dem sozialen Netzwerk.

Hat ihre Fluchterfahrung sie auch musikalisch geprägt? Nur eines habe sie konkret verändert, sagt Maryam: Ihre Lieder schreibt sie nun nicht mehr in ihrer eigentlichen Muttersprache Russisch, sondern auf Ukrainisch.