PNP Spendenaktion
Generalsekretär von CARE Deutschland: „Man muss vor Ort das Überleben sichern“

29.11.2022 | Stand 12.10.2023, 10:16 Uhr

„Kinder müssen einen Raum haben für Verarbeitung, wie sie es zum Beispiel mit Malen tun“, sagt Karl-Otto Zentel, Generalsekretär von CARE Deutschland. 5,5 Millionen Kinder sind in der Ukraine akut auf Hilfe angewiesen. Zentel bereiste dieses Jahr mehrmals die Ukraine, um sich davon zu überzeugen, wie CARE zusammen mit lokalen Partnern Nothilfe leistet, hier in einer Unterkunft für Frauen und Kinder in Lviv. −Fotos: Sarah Easter/CARE

Millionen Menschen in der Ukraine stehen vor den Scherben ihrer Existenz. Der Winter verschärft die Lage im Krieg dramatisch. Was Kinder in der Ukraine jetzt brauchen und wie die Hilfsorganisation CARE sie unterstützt, erklärt Generalsekretär Karl-Otto Zentel.

Alle Berichte und Hintergründe zur Spendenaktion finden Sie auf unserer Sonderseite. Hier können Sie online spenden.

Das Interview im Wortlaut:

Herr Zentel, wie schätzen Sie die humanitäre Lage in der Ukraine derzeit ein? Wie viele Menschen benötigen akut Hilfe – und wie viele Kinder sind betroffen?
Karl-Otto Zentel: Wir haben in der Ukraine 6,7 Millionen Menschen, die im Land auf der Flucht sind, vom Ostteil in den Westen hinein. Insgesamt benötigen 17,7 Millionen Menschen humanitäre Hilfe, davon sind 5,5 Millionen Kinder. Das sind Zahlen der Vereinten Nationen.

Eine wahnsinnig große Zahl…
Zentel: Das ist immens, auch gemessen an der Gesamteinwohnerzahl von knapp 44 Millionen. Sehr viele Menschen in der Ukraine sind jetzt auf Unterstützung angewiesen. Das ist eine große Leistung, die von den Ukrainern erbracht wird, die viele ihrer Landsleute aufgenommen haben. Aber hier ist natürlich die Frage: Was ist die Perspektive? Wohnraum ist knapp, Arbeitsplätze sind zum Teil nicht vorhanden. Das braucht Unterstützung.

Gleichzeitig haben wir ja auch Gebiete, die immer noch umkämpft sind und Frontlinien, die sich verschieben. Wir haben große Zerstörungen dort. Das wurde mir, als ich dieses Jahr das erste Mal in der Ukraine war, so richtig bewusst. Das war im April, kurz nachdem die Gebiete nördlich von Kiew befreit wurden. Dort leben Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung, ihres Alters oder Erkrankungen in so einer Situation nicht fliehen können, sondern einfach ausharren müssen und besonders betroffen sind. Wir haben da ja auch Krebspatienten, HIV-Patienten, denen die Medikamente fehlen neben den Nahrungsmitteln. Da ist basishumanitäre Unterstützung sehr dringend.

Sie waren ja seit Ausbruch des Krieges bereits zweimal vor Ort in der Ukraine. Was haben Sie von diesen Besuchen für Ihre tägliche Arbeit mitgenommen?
Zentel: Die Reisen gingen jeweils in den Westen des Landes, zunächst nach Lviv und dann weiter nach Kiew. Das hat mir auch gezeigt, wie unterschiedliche die Bedarfe waren oder aktuell sind. Im Westen gibt es sehr, sehr viele Geflüchtete, die dort in Turnhallen, Stadien, aber auch in Firmen untergekommen sind. Diese Menschen mussten erst mal verarbeiten, was sie erlebt hatten. In der ersten Welle waren noch viele Menschen dabei, die direkt aus Mariupol kamen, die kaum in der Lage waren, über das zu sprechen, was dort passiert ist, die tief traumatisiert waren. Eine Frau erzählte mir, dass sie ein Visum für England beantragt habe, obwohl sie visafrei in die EU könne, nur um möglichst weit weg zu kommen von dem Ort, an dem sie so viel Schlimmes erlebt hat. Man sieht, die Menschen müssen erst mal zur Ruhe kommen und brauchen dann Unterstützungsangebote.

In Kiew hingegen war im April die Stadt leer, da waren die Straßen frei, die Geschäfte geschlossen, nur wenige Restaurants offen. Das war eine Zeit, in der täglich Luftalarm herrschte. Vororte wie Butscha waren massiv zerstört, Menschen hausten unter erbärmlichen Bedingungen, sie benötigten Trinkwasser und Nahrungsmittel. Es gibt also große Unterschiede und die Bedürfnisse sind je nach Ort sehr unterschiedlich, von langfristigen Angeboten zur Integration bis hin zur notwendigen Überlebenshilfe anderswo.

Gibt es regionale Schwerpunkte, auf die sich die Hilfe von CARE konzentriert?
Zentel: Wir haben aufgrund der Größe der Katastrophe zunächst versucht, möglichst landesweit tätig zu werden über Partnerorganisationen. Das ist uns auch gelungen. Das war in den ersten sechs Monaten unsere Strategie. Und ich finde, das war sehr erfolgreich, wir konnten viele Menschen erreichen, wo es nötig war. Wir werden uns jetzt aber stärker regional konzentrieren. Das heißt, dass wir Winterhilfe mit Basisgütern wie warmer Kleidung, Decken oder Heizöfen in den Osten des Landes nahe an die Kampflinien heranbringen. Wohingegen wir uns im Westen des Landes darauf konzentrieren werden, Unterkünfte, die teilweise ja nicht darauf eingerichtet sind, im Winter von vielen Menschen bewohnt zu werden, winterfest zu machen.

Wie können unsere Leser helfen? Was bewirkt sagen wir mal eine Spende von 100 Euro?
Zentel: Ein konkretes Beispiel für genau 100 Euro kann ich Ihnen leider nicht nennen, aber mit 120 Euro sind wir in der Lage, eine Familie für einen Monat mit Lebensmitteln zu versorgen. Für 35 Euro können wir Hygienekits zur Verfügung stellen, die Seife, Einmalrasierer, Damenbinden und andere Dinge enthalten, die man im täglichen Leben braucht und die in Kriegszeiten vielleicht nicht so einfach zu bekommen sind.

Haben Sie seit Ausbruch des Krieges im CARE-Team oder bei Hilfspartnern Verluste erlitten?
Zentel: Es sind humanitäre Helfer in der Ukraine ums Leben gekommen, hauptsächlich im Osten des Landes. Mariupol war leider so ein Beispiel. Glücklicherweise waren das nicht Partner von uns und auch keine Mitarbeitenden von CARE. Die Sicherheit unserer Mitarbeiter hat einen sehr hohen Stellenwert, wir nehmen die Luftalarme sehr ernst und haben Sicherheitsexperten, die uns beraten. Es gibt Schutzräume, in die sich unsere Kollegen zurückziehen können. Und speziell für unsere Partner im Osten des Landes gibt es ein auf den Kriegsalltag angepasstes Sicherheitstraining.

Das kontinentale Klima der Ukraine kombiniert mit der zerbombten Infrastruktur verheißt harte Monate. Worauf stellen sich Ihre Mitarbeiter ein? Und woran mangelt es am meisten?
Zentel: Im Osten des Landes mangelt es inzwischen an so gut wie allem. Was jetzt gerade stattfindet, ist ja eine gezielte Zerstörung, um das Leben der Menschen im Winter noch zusätzlich zu erschweren. Das heißt ja nicht nur, dass Strom dann weg ist, sondern teilweise bricht dann auch die Wasserversorgung zusammen, weil die über Strom läuft. Das hat ja ganze Kaskaden von Folgeerscheinungen.

Die Regierung hat die Menschen im Osten dazu aufgefordert, das Gebiet im Winter zu verlassen und in den Westen zu kommen. Sie haben Auffangstationen definiert, wo die Menschen im Westen hingehen sollen. Es bleibt abzuwarten, wie das angenommen wird. Es gibt viele, die das nicht können. Gemeinsam mit unseren Partnern helfen wir fast überall in der Ukraine. Im Osten erwarten wir mit bis zu minus 25 Grad die härtesten Winterbedingungen. Da geht es nun um warme Kleidung, Decken und Heizmöglichkeiten. Dort, wo es möglich ist, wird es auch darum gehen, zerstörte Häuser wieder notdürftig instand zu setzen und zu isolieren.

Das ist jetzt der erste Winter unter diesen Bedingungen. Auch wenn der Krieg morgen enden würde, würden alle Wiederaufbaubemühungen nicht ausreichen, um den Winter 2023 schon wieder unter normalen Bedingungen erleben zu können. Das heißt, was wir hier tun neben den direkten Hilfslieferungen soll auch eine Wirkung im kommenden Jahr haben.

Warum ist es so essenziell, den Menschen vor Ort zu helfen? Jenen, die nicht weg können oder auch gar nicht weg wollen?
Zentel: Man muss vor Ort das Überleben im Winter sichern. Da sind wir als Hilfsorganisation vielleicht auch in einer schwierigen Situation. Dadurch, dass wir im Osten Hilfe anbieten, sind das vielleicht auch Dinge, die die Entscheidung der Menschen, zu gehen oder zu bleiben, beeinflussen. Das heißt, wir übernehmen dann auch Verantwortung. Wir müssen uns sicher sein, dass wir diese Hilfe über den Winter aufrechterhalten können. Ansonsten wären die Menschen besser beraten, in den Westen des Landes zu gehen, wo wir uns auch bemühen werden, die Auffangstationen baulich zu verbessern.

Welche langfristigen Folgen sehen Sie für das Land? Was macht dieser Krieg mit Kindern, deren Eltern an der Front kämpfen und die schon als Fünfjährige wissen, wie sie sich bei Bombenangriffen schützen müssen?
Zentel: Es wird lange, lange Zeit brauchen. Ich hatte da einige Unterkünfte in Lviv besucht, in denen sehr viel mit Kunsttherapie gearbeitet wird. Da findet wichtige Aufarbeitung statt. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass inzwischen 20 Prozent der ukrainischen Armee Frauen sind. Unsere Mitarbeiter treffen da auch Männer mit kleinen Kindern, deren Frauen an der Front gefallen sind und die sich jetzt in einer völlig neuen Rolle wiederfinden, die sich orientieren müssen. Die Erwachsenen haben einen langen Weg vor sich, das zu verstehen und aufzuarbeiten. Es wird auch wichtig sein, dass die Gesellschaft als solche zusammenbleibt, denn es gibt natürlich einen russischsprachigen Teil und einen ukrainischsprachigen Teil in der Gesellschaft. Im Moment klafft das auseinander.

Kinder müssen einen Raum haben für Verarbeitung, wie sie es zum Beispiel mit Malen tun, sie brauchen viel Geduld und Zeit. Damit meine ich nicht nur die Kinder, die in der Ukraine sind. Das betrifft genauso Familien, die hier in Deutschland sind, die immer noch Kontakt zu Angehörigen in der Ukraine haben oder oft auch nicht wissen, wie es ihnen geht oder Nachricht bekommen, da ist wieder jemand gestorben, da ist jemand verschwunden, da wurde das Haus zerstört. Das sind ja alles Dinge, die über die modernen Medien leicht ankommen und dann noch mal zusätzliche Verstörungen auslösen.

In unserer angespannten wirtschaftlichen Lage machen Populisten Stimmung gegen geflüchtete Menschen. Stemmt Deutschland einen weiteren Flüchtlingsrekord – und wenn ja, wie?
Zentel: Die Hilfsbereitschaft, die gleich zu Beginn da war, macht mich sehr optimistisch. Das war wirklich gigantisch, was da wieder geleistet wurde. Ich habe auch den Eindruck, dass eine sehr schnelle Integration stattfindet. CARE hat auch in Deutschland ein Hilfsprogramm, mit dem wir ukrainische Kinder unterstützen, in die Schule zu kommen, mit einem Startpaket, damit sie alles dabeihaben, was sie brauchen. Und de facto ist es ja so: Diese ukrainischen Kinder sind morgens in der deutschen Schule und nachmittags haben sie digitalen ukrainischen Unterricht, um ihre Schulabschlüsse in der Ukraine nachzuholen. Wir haben ja auch Wellenbewegungen in diesem Krieg, Menschen kamen, Menschen gehen wieder zurück. Jetzt im Winter könnten wieder mehr Menschen kommen aus der Not heraus, die dann aber auch wieder zurückgehen werden. Ich hoffe, dass da was zusammenwächst, dass sich die Solidarität hält.

Wie sehr verdrängt der Krieg in Europa gerade andere große Krisen und Konflikte wie im Jemen oder in Ostafrika? Was kommt da noch alles auf uns zu?
Zentel: Der Krieg in der Ukraine war vielleicht nicht der Auslöser einer Entwicklung, aber der Brandbeschleuniger. Wir haben ohnehin eine Verlängerung von Krisen und Konflikten, Syrien ist jetzt im zwölften Jahr, Jemen im achten Jahr des Bürgerkrieges. Die Dürre am Horn von Afrika geht jetzt ins dritte Jahr. Die Zahlen von Menschen auf der Flucht, von Menschen, die humanitäre Hilfe benötigen, sind in den vergangenen Jahren extrem gestiegen – und damit die benötigten Mittel.

Der Ukraine-Krieg hat zum einen viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, das ist richtig. Zum anderen hat er dazu geführt, dass Nahrungsmittel teurer wurden. Die Kollegen im Libanon hatten zum Beispiel nach Ausbruch des Krieges kein Speiseöl mehr – der Markt war leer gekauft. Andere können plötzlich mit ihrem Budget nicht mehr 5000, sondern nur mehr 4000 Leute unterstützen, weil die Gelder ja nicht mehr werden. Wir wissen jetzt schon, dass es nächstes Jahr 30 Prozent weniger Düngemittel geben wird global, was auch noch Auswirkungen auf die Ernteerträge haben wird. Es wird wichtig sein, dass wir neben all der Hilfe, die wir in der Ukraine leisten, weiter auch im Blick haben, dass es an anderen Orten der Welt Menschen gibt, die auch dringendst Unterstützung benötigen, um zu überleben.