Trostberg
Kalkstickstoff der AlzChem: Noch ein langes Verfahren

Bundesministerium für Landwirtschaft erklärt die Schritte bis zur Entscheidung der EU-Kommission.

17.06.2020 | Stand 21.09.2023, 3:44 Uhr

Im Chemiepark in Trostberg wird seit über 110 Jahren Kalkstickstoff produziert. Die Herstellung des Düngers für die Landwirtschaft macht derzeit immer noch die Hälfte der gesamten Produktionsmenge von Kalkstickstoff der AlzChem in Trostberg aus. −F.: AlzChem

Wenn ein chemisches Produkt schon seit über 100 Jahren hergestellt und angewendet wird, geht man eigentlich davon aus, dass es bisher schon hinreichend auf mögliche Risiken untersucht wurde. Deshalb drängte sich die Frage auf, warum die Experten nun zu einem neuen Ergebnis gekommen sind. "Die Diskussionen zur Sicherheit des Produkts Kalkstickstoff laufen schon längere Zeit", erklärt eine Sprecherin des Ministeriums. Begonnen hätten sie im Vorfeld zu einer im Jahr 2016 veröffentlichten Stellungnahme des Wissenschaftlichen Ausschusses "Gesundheits- und Umweltrisiken" (SCHER) der EU-Kommission zu Kalkstickstoff. Stark vereinfachte Aussage dieser Stellungnahme war, dass nachteilige Effekte auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt bei der Anwendung des Produktes nicht ausgeschlossen werden können. In den Diskussionen ging es dabei vorrangig um offene Fragen zur Anwendersicherheit bei und nach der Anwendung des Produktes.

Wegen der chemischen Verbindungen des Kalkstickstoff und insbesondere wegen der im Boden entstehenden Abbauprodukte gebe es bei der Ausbringung des Düngers Risiken für die Anwender, wenn entsprechende Anwendungs- und Sicherheitshinweise nicht beachtet werden. Die ECHA wurde daher von der Europäischen Kommission beauftragt, ein Beschränkungsverfahren nach der REACH-Verordnung einzuleiten.

Denn Kalkstickstoff unterliegt neben dem europäischen Düngemittelrecht auch dem europäischen Chemikalienrecht, insbesondere der REACH-Verordnung (Verordnung zur Registrierung, Bewertung, Zulassung und Beschränkung chemischer Stoffe (REACH). Bringt die Herstellung, die Verwendung oder das Inverkehrbringen von Stoffen ein unannehmbares Risiko für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt mit sich, das gemeinschaftsweit behandelt werden muss, so kann die Europäische Kommission nach der REACH-Verordnung neue Beschränkungen festlegen.

ECHA: In früheren Studien Risiken unterschätzt Auf Grundlage der genannten SCHER-Stellungnahme hat die Europäische Kommission die ECHA beauftragt, einen vorläufigen Bericht zu den Risiken von Kalkstickstoff vorzulegen, was laut Angaben des Ministeriums im Januar 2018 erfolgte. Grundaussage war, dass vorausgehende Untersuchungen Umweltrisiken für Organismen im Wasser unterschätzt hätten. Zudem gebe es Unsicherheiten bezüglich der Risiken für Organismen, die an Land leben.

Der Entwurf des ECHA-Sekretariats für eine REACH-Beschränkung von Kalkstickstoff wurde am 19. Juli 2019 veröffentlicht. Das Dossier umfasst insgesamt 259 Seiten. Dieses Dokument enthält auch den Vorschlag, Kalkstickstoff nach einer Übergangszeit von drei Jahren zu verbieten (mit Ausnahme der Anwendung in geschlossenen Systemen).

Die vorgeschriebene öffentliche Konsultation zum Dossier ist am 25. September 2019 gestartet worden und endete am 25. März 2020. Gefragt wurde insbesondere nach Daten über Risiken, nach Erläuterungen der bisherigen praktischen Anwendung, nach möglichen alternativen Düngemitteln sowie nach wirtschaftlichen und ökologischen Auswirkungen einer Beschränkung.

Diese Informationen sollen den ECHA-Expertenausschüssen ergänzend zu dem Dossier eine Grundlage bieten, um ihre Stellungnahme anzufertigen. "Die begonnenen fachlichen Prüfungen durch die ECHA-Expertenausschüsse RAC (Ausschuss für Risikobeurteilung) und SEAC (Ausschuss für sozioökonomische Analyse) werden mindestens bis zum September 2020 andauern", schreibt das Bundesministerium. Alle eingegangenen Kommentare aus dieser öffentlichen Konsultation und Rückmeldungen dazu würden veröffentlicht. Zahlreiche Fachverbände wie zum Beispiel der Bayerische Bauernverband (BBV), Firmen sowie Einzelpersonen haben Stellungnahmen abgegeben.

Noch viele Stellungnahmen auf verschiedenen Ebenen Auch zu den Entwürfen der ECHA-Expertenausschüsse findet eine öffentliche Konsultation statt. Alle diese Verfahrensschritte und alle Dokumente werden auf der ECHA-Homepage veröffentlicht. Die finalen Stellungnahmen werden durch die ECHA ebenfalls veröffentlicht und an die EU-Kommission übermittelt.

Dann obliege es nach der REACH-Verordnung der Europäischen Kommission, zu entscheiden, ob sie einen eigenen Beschränkungsvorschlag erstellt und wie sie diesen ausgestaltet. Dieser Vorschlag wird den Mitgliedstaaten zur Abstimmung übermittelt. Sollte die Europäische Kommission in wesentlichen Punkten von der RAC/SEAC-Stellungnahme abweichen, hat sie dies den Mitgliedstaaten zu erläutern. "Erst auf der Grundlage des Beschränkungsvorschlags der Kommission beginnt die Positionierung und Abstimmung innerhalb der Bundesregierung zur Vorbereitung eines Votums für Deutschland im REACH-Regelungsausschuss", betont die Ministeriumssprecherin.

Erhält ein Vorschlag der Europäischen Kommission die Zustimmung der qualifizierten Mehrheit der Mitgliedstaaten im Ausschuss, erfolgt noch die Beteiligung des Europäischen Parlaments und des Rates, bevor die endgültige Entscheidung durch die Europäische Kommission erlassen werden kann und ihre Veröffentlichung im EU-Amtsblatt stattfindet.