Simbacher Autorin Gertrud Scherf
Wohnt im Baum das Göttliche oder der Teufel? – Buch über Baumsagen

27.11.2021 | Stand 20.09.2023, 6:23 Uhr

"Der Baum ist oft schon da, wenn der Mensch ins Leben eintritt, und immer noch da, wenn der Mensch geht." Darin liegt für die Autorin Gertraud Scherf ein wesentlicher Grund für die Faszination. Je nach Sichtweise wird der Baum daher verehrt, respektiert, geachtet oder bekämpft. −Foto: Pexels/Felix Mittermeier

Im Baum, da ist die Gottesmutter Maria erschienen, oder zumindest eine Figur von ihr – so erzählen es christliche Legenden. Aber im Baum, da hockt auch der Leibhaftige persönlich – so berichtet es der Volksmund. Spirituell Angehauchte und bayerische Ministerpräsidenten umarmen heutzutage Bäume, aus energetischen oder Selbstvermarktungsgründen, früher haben gestandene Heilige die Axt geschwungen, um das heidnische Grünzeug auszurotten. Ganz offensichtlich ist die Beziehung zwischen Mensch und Baum eine sehr spezielle, keine andere Pflanzenart ist wohl so aufgeladen mit menschlichen Befindlichkeiten. Darüber hat die in Berchtesgaden geborene und seit 2012 in Simbach am Inn lebende Autorin und Biologin Gertrud Scherf das Buch "Baumsagen und Sagenbäume in Bayern" geschrieben.

"Der Baum ist größer als der Mensch und älter als der Mensch", sagt Gertrud Scherf, "er ist oft schon da, wenn der Mensch ins Leben eintritt, und immer noch da, wenn der Mensch geht." Darin liegt ein wesentlicher Grund für die Faszination. Gertrud Scherf ist ein rationaler Mensch, 1947 geboren hat sie bisher 25 Sachbücher über die Kulturgeschichte von Pflanzen und Tieren verfasst. Sie mag Bäume. Aber umarmen? "Nein. Der Baum braucht uns ja nicht, aber wir brauchen ihn. Zu meinen, wir müssen ihm mit der Umarmung etwas Gutes tun, das kommt mir direkt ein bissl aufdinglich vor."

Ihre Doktorarbeit in Didaktik der Biologie, ihr Beruf als Lehrerin und ihre Vorträge und Führungen haben ihr gezeigt, dass Kinder wie Erwachsene das Wissen besser aufsaugen, wenn sie nicht nur Namen und Fakten hören, sondern zudem Geschichten und Sagen. Wenn die Naturwissenschaft also den Schlenker übers Sagenhafte macht. Zudem ist es der Autorin ein ganz wesentliches Anliegen, für den Schutz der Natur zu begeistern. Sie hält es mit Konrad Lorenz: "Man liebt nur, was man kennt, und man schützt nur, was man liebt." Darum bietet Gertrud Scherf Buch beides: Kenntnis und Emotion. Abseits aller Sagen braucht der Mensch Bäume, das ist keine Meinung, das ist Fakt: Bäume produzieren Sauerstoff, binden CO2, verdunsten Wasser und kühlen die Umgebung, binden Wasser und verzögern den Abfluss, bilden Humus, liefern Holz und Nahrung, und wirken positiv auf Körper und Seele des Menschen.

Als wäre das nicht sagenhaft genug, haben die Meschen sich verschiedenste Bilder vom Baum zurechtgelegt. Wie sieht der Mensch den Baum und wie geht er in der Folge mit ihm um? Nach dieser Überlegung hat Gertrud Scherf die "Baumsagen und Sagenbäume in Bayern" strukturiert, die sie in Sagensammlungen, in der germanischen Mythologie, aber auch in antiken Sagen aus dem gesamten europäischen Raum recherchiert hat – schließlich hindert ein Weißwurstäquator keine gute Geschichte am Wandern.

"Erhaben und verehrt" heißt der erste Abschnitt, er erzählt von Bäumen, vor denen der Mensch sich verneigt. So gibt es eine wahre Fülle von Marienwallfahrtsorten, wo ein Baum eine entscheidende Rolle spielt, von Maria Eich (Kreis München) und Maria Birnbaum (Kreis Aichach-Friedberg) über Kronberg und Kößlarn (Kreis Passau), Gartlberg (Kreis Rottal-Inn) bis Feichten a. d. Alz (Kreis Altötting) und Ettenberg im Berchtesgadener Land. Der Legende nach kehrten hier Marienbilder zum Baum zurück, oder Engel oder Rehe brachten gar das Baumaterial für eine Kirche zurück zum Baum. "Die Kirche hat im Mittelalter die Baumverehrung geradezu verboten", sagt Gertrud Scherf, "die Gegenreformation hat sie eher befördert. Man hatte erkannt, dass man die Gläubigen eher halten kann, wenn man die Natur mit ins Boot nimmt."

"Geisterhaft und respektiert" sind Bäume nach Einschätzung der Autorin weniger im bayerischen Kulturkreis als in antiken und außereuropäischen Kulturen. Wobei auch hierzulande gerade in Auen auch Bäume als geisterhaft wahrgenommen werden und Baumgeistbeschwörung überliefert sind, wo etwa ein Baum angesprochen wird, der dann beispielsweise die Krankheit eines Menschen übernimmt.

"Menschverwandt und geachtet" heißt das Kapitel, das die besonders innige Verbindung zwischen Mensch und Baum thematisiert, sei es, dass der Mensch aus einem Baum geboren, in einen Baum verwandelt oder mit einem "Sympathiebaum" verschmolzen ist. Im der Gegend von Cham erzählt man die Geschichte dieses jung verheirateten Bauern, dessen junge Frau jede Nacht weggeht und nach mehreren Stunden erst erschöpft heimkehrt. Sie drückt aber keinen anderen Kerl, sondern einen Baum hinten im Wald. Um ihr das Leben zu erleichtern, fällt der Bauer den Baum und zieht ihn zum Hof. Die Bäuerin aber liegt am nächsten Morgen tot auf dem Baum. Der Mann hat mit ihrem Alter Ego die Liebste selbst getötet.

"Bedrohlich und angefeindet" ist das finsterste Kapitel. Der vorchristlichen Urbevölkerung, den Kelten und Germanen, war der Baum heilig. "Darum hat sich die Kirche das ganze Mittelalter durch bemüht, die als heidnisch angesehene Baumverehrung zu verbieten ", sagt Gertraud Scherf. In völliger Umkehrung der bisherigen Sichtweise, wurde der Baum mitunter sogar zum Sitz des Teufels erklärt. "Der heilige Martin und der heilige Bonifazius waren beide Baumfäller. Sie haben die Bäume als Heiligtümer zerstört, um die Machtlosigkeit der alten Götter zu zeigen – das ist nicht mal eine Sage, das ist historisch." Aus Niederalteich im Kreis Deggendorf stammt die Sage, dass dort an zwei übergroßen Eichen an der Donau die ägyptische Göttin Isis verehrt worden sei. Die "Götzenbäume" wurde vernichtet, und an ihrer Stelle das bekannte Kloster errichtet – so die Sage.

Auch heute noch gebe es eine "Baumfeindlichkeit", findet die Autorin. Ganz allmählich erst werde dem Menschen bewusst, wie sehr er den Baum doch braucht und wie viel Gutes er ihm tut.

Raimund Meisenberger



Allitera, 220 Seiten, 19,90 Euro