Regen
100 Jahre Baugenossenschaft Regen: Am Anfang stand größte Wohnungsnot

17.08.2019 | Stand 17.08.2019, 7:05 Uhr

Das älteste Haus der Baugenossenschaft Regen, erbaut 1920, ist im Jahr 2018 aufwendig saniert worden. Die Bausubstanz ist erstaunlich gut, die Grundrisse der fünf Wohnungen blieben erhalten. Tanja Steinbauer, seit drei Jahren Geschäftsführerin der Baugenossenschaft, plaudert hier mit Michael Stadler, der seit über 20 Jahren in einem Genossenschaftshaus wohnt. −Foto: Fuchs

1919: Der erste Weltkrieg ist vorbei, es herrscht Not und Elend und vor allem ein katastrophaler Mangel an ordentlichen Wohnungen. Das ist in Regen nicht anders. Einige Bürger greifen den Genossenschaftsgedanken zur gegenseitigen Hilfe und Selbsthilfe auf und gründen am die erste Baugenossenschaft des Gerichtsbezirks Regen. Am 14. August 1919 erfolgt der Eintrag ins Registergericht. Heute hat die Genossenschaft 70 Wohnungen im ganzen Stadtgebiet, die Nachfrage ist hoch wie eh und je, sagt Geschäftsführerin Tanja Steinbauer. Im September soll das Jubiläum im Brauereigasthof Falter gefeiert werden.

Um möglichst schnell viele Wohnungen zu bauen, mussten Ende 1919 kapitalkräftige Mitglieder gewonnen werden. Jeder Genosse konnte bis zu 50 Anteile erwerben und verpflichtete sich, mit einer Haftsumme von 200 Mark für die Baugenossenschaft gerade zu stehen. In der ersten Bilanz vom 31.12.1919 sind 17 Mitglieder, Kapital von insgesamt 440 Mark, ein Gründungsfond von 999,85 Mark und eine Schenkung von fünf Mark verzeichnet.

Der Marktgemeinderat Regen beschließt in der Sitzung vom 3.3.1920 der jungen Genossenschaft den Kaufpreis von 10000 Mark als Darlehen für den Kauf des Schinderackergartens nordöstlich am Ortsrand (das Gebiet um die heutige Gotthard-Oswald-Straße) zu gewähren. Geplant ist ein höchst modernes Fünf-Familienhaus. Immer wieder muss die Bautätigkeit unterbrochen werden, da nötiges Bargeld und somit auch Baumaterial fehlt. Erst im Juni 1921 können die fünf Wohnungen im neuen Haus bezogen werden.

Die rührigen Baugenossen erwecken in der Bevölkerung Regens viel Interesse, und bald finden sich weitere Mitglieder, die bereit sind, ihr Erspartes in die Häuser der Genossenschaft zu investieren. So entstehen die ersten vier Reihenhäuser in Regen an der heutigen Gotthard-Oswald-Straße. Aus Geldmangel wird nur noch das Untergeschoss gemauert, das Obergeschoss gezimmert. Die Häuser können ebenfalls noch 1921 bezogen werden. Der neuen Wohnanlage mit den umliegenden Gärten verleiht man den poetischen Namen "Neufriedenheim".
Mit der Geldentwertung kommt der BaustoppDie katastrophale Geldabwertung im Jahr 1923 bringt die so verheißungsvoll begonnene Bautätigkeit zum Erliegen. Erst 1929 kann wird wieder gebaut werden: Es entstehen die Häuser Bodenmaiser Str. 20 mit vier Wohnungen und das Doppelhaus Gotthard-Oswald-Str. 7/9. Bis zum Jahr 1936 folgen vier weitere Häuser mit jeweils zwei Wohnungen: Gotthard-Oswald-Str. 11 und 13, Bodenmaiser Str. 26 und 28. Auch eine erste Garage wird gebaut und vermietet, durch das Tor passt aber heute kein Pkw mehr. Die zwölf Häuser mit 25 Wohnungen liegen in einer geschlossenen Gruppe zusammen, zu den Wohnungen gehören Gärten mit durchschnittlich 100 Quadratmetern.

Die allgemeine politische Lage in Deutschland und der zweite Weltkrieg bringen die Bautätigkeit abermals zum Erliegen. Während der Kriegsjahre sind die Wohnungen der Baugenossenschaft sehr begehrt, denn aus den relativ großen Gärten können sich die Mieter weitgehend selbst versorgen.

Als nach dem Krieg viele Heimatvertriebene nach Regen strömen, müssen die Baugenossen enger zusammenrücken und Wohnraum an Obdachlose abgeben. Angesichts der Wohnungsnot in Regen befasst sich der Vorstand ab 1947 mit dem Gedanken, wieder zu bauen. An der Guntherstraße liegen ideale Grundstücke, die der Baugenossenschaft von der Kirche in Erbpacht zur Verfügung gestellt werden. Moderne Wohnblöcke sollen dort entstehen, ein langwieriger Papierkrieg um Zuweisung des nötigen Baumaterials verzögert jedoch den Baubeginn. Mithilfe Staatsgeldern und Krediten von Regener Geschäfts- und Privatleuten beginnt eine emsige Bautätigkeit: Im Februar 1950 kann das Haus Guntherstraße 7 (Flüchtlingsblock) bezogen werden, im Juli Guntherstraße 5 (Caritasblock) und im September das Haus Pfarrer-Biebl-Str. 7 (Justizblock).

Nachkriegszeit bringt Bürger- und PostblockDie beiden Häuser Pfarrer-Biebl-Str. 9 (Bürgerblock) und Guntherstraße 3 (Postblock) sowie die Häuser Bärndorfer Str. 4 und 6 werden Mitte 1951 fertiggestellt. Das Haus Schlesische Str. 8 folgt 1954. In vier Jahren schafft die Baugenossenschaft Regen acht Wohnblöcke mit insgesamt 54 Wohnungen und gibt damit u. a. vielen Heimatvertriebenen und Flüchtlingen eine neue Heimat. Begehrt waren die Wohnungen auch wegen der zugehörigen Gärten.

Der Bauboom dieser Zeit macht der Genossenschaft wieder finanziell zu schaffen. So wird erst im Jahr 1964 ein neues Projekt in Angriff genommen. An der Schlesischen Straße entsteht ein Vierfamilien-Haus, das erste mit Zentralheizung. In den folgenden Jahren kommt man auch mit dem Bau von zwölf Garagen dem Wunsch vieler Mieter nach einer Unterstellmöglichkeit für Autos entgegen.

Der letzte Neubau entstand 1984Im Jahr 1983 stellt die Regierung von Niederbayern die Vorstandschaft der Baugenossenschaft Regen vor eine schwere Entscheidung: Um die Gemeinnützigkeit weiterhin zu erhalten, müssen endlich wieder einmal neue Wohnungen entstehen. 1984 entsteht als letzter Neubau ein Sechsfamilien-Wohnblock an der Gotthard-Oswald-Straße.

Heute besitzt die Baugenossenschaft Regen 70 Wohnungen in 17 Häusern, ein eigengenutztes Büro, 16 Garagen, vier Carports und 20 Kfz-Stellplätze.

100 Jahre Wohnkultur Seit dem Bau der ersten Häuser der Baugenossenschaft Regen hat sich viel geändert. Das Familienleben spielte sich früher in der Wohnküche ab, dem meist einzigen Raum, der beheizt werden konnte. Badezimmer im heutigen Sinn kannte man damals nicht. Beim Bau des ersten Hauses der Genossenschaft, heute Bodenmaiser Str. 32, war es deshalb sicher schon revolutionär, dass es in jeder Wohnung ein winziges Kammerl für ein Plumps-Closett gab. Wasserspülung war noch ein Luxus, der in diesem Haus erst 1951 mit dem enormen Kostenaufwand von 1522 DM installiert wurde.

Im Mietvertrag von 1930 für eines der Reihenhäuser an der Gotthard-Oswald-Straße sind verzeichnet: Im Erdgeschoss Wohnzimmer, Wohnküche, Magdkammer, im Obergeschoss Schlafzimmer, Kinderschlafzimmer und Fremdenzimmer. Es gab noch einen Speicher, eine Waschküche, Kleintierstallung und Holzlege.

Der Abort direkt über der Grube hinter dem Haus wird nicht erwähnt. Erst auf den Plänen für die Häuser, die in den 30er Jahren gebaut wurden, wurde der kleine Raum als WC - Wasserclosett bezeichnet.

Gebadet wurde in einer Zinkwanne in der geheizten Küche oder im Keller. In jedem Haus gab es eine Gemeinschafts-Waschküche mit einem großen Kessel, den die Mieter nach einer festgelegten Ordnung heizen und zum Wäschewaschen und Baden benutzen konnten. Das musste in größeren Häusern in einer "Waschhausordnung" festgelegt werden: "Spätest von Samstag Mittag ab muss die Waschküche für die Badbenutzung frei sein ".

Geheizt wurde mit Holz, deshalb gab es für jede Wohnung auch einen Lagerschuppen. In den Häusern an der Guntherstraße war zwar dann Platz für ein kleines Bad vorgesehen, die Mieter mussten sich aber Badewanne und Badeofen aus eigenen Mitteln anschaffen. Die Wäsche wurde nach wie vor in der Waschküche im Keller gewaschen.

Ab den 50er Jahren stellte die Baugenossenschaft Wamsler- Küchenherde und Zimmeröfen zur Verfügung, die von den Mietern später zunehmend durch Elektro-Gas- und Ölöfen ausgetauscht wurden. Strom gab es zwar von Anfang an in den Genossenschaftshäusern, die Aufputzleitungen versorgten aber zunächst nur die Deckenlampen. Steckdosen waren, wenn überhaupt, nur sehr spärlich vorhanden, warum auch, es gab ja lange keine elektrischen Geräte.

Ab 1948 mussten die Mieter Wassergeld bezahlen: Pro Person 60 Pfennig vierteljährlich. Erst ab 1955 gab es in Regen eine städtische Müllabfuhr. Vorher entsorgten die Mieter ihren Küchenabfall auf den Komposthaufen, Papier fand u.a. Verwendung auf dem Abort, Lumpen, Flaschen und Metall wurden gesammelt. Plastikmüll gab es noch nicht.

Aus den vollständig erhaltenen Mieterakten ist auch ersichtlich, dass 1951 im Bürgerblock (Pfarrer-Biebl-Str. 7) der erste Privat-Telefonanschluss installiert wurde und dass 1961 der Antennenvertrag Nr. 1 mit einem Mieter in der Gotthard-Oswald-Str. abgeschlossen wurde, der sich als erster ein Fernsehgerät anschaffte.

Mit der Wirtschaftswunderzeit wuchsen auch die Ansprüche. Im Haus Schlesische Str. 6, das 1963 gebaut wurde und das Staatsbediensteten vorbehalten war, hatte schon jede Wohnung ein Bad und ein separates WC. Dieses Haus war auch lange Zeit das einzige der Baugenossenschaft Regen, in dem es Zentralheizung gab. Garagen und Stellplätze für Pkw waren lange nicht nötig.

Auch die Wohndauer hat sich im Laufe der Zeit erheblich verringert. Früher lebten die Mieter oft ein Leben lang in "ihrer" Wohnung. Maria Seibold z.B. war beim beim Einzug mit ihrer Familie fünf Jahre alt und blieb bis zu Ihrem Tod im Alter von 90 Jahren im Jahr 2006 in derselben Wohnung. Im Jahr 2019 gibt es nur noch eine Familie, die seit 40 Jahren bei der Genossenschaft wohnt, zwei seit über 30 Jahren, acht seit über 20 Jahren und 19 seit über zehn Jahren.

100 Jahre – Geschichten und Anekdoten•Das erste Haus der Baugenossenschaft Regen wurde aus Kostengründen nur halb unterkellert. Der Dachstuhl wurde aus Balken vom Abbruch eines Stalles in Schlossau gezimmert und die Dachwohnung konnte erst fertiggestellt werden, nachdem man die nötigen Fußbodenbretter von der Entlausungsanstalt in Plattling geholt hatte, die damals zufällig gerade abgebrochen wurde.
•Bei der katastrophalen Geldabwertung im Jahr 1923 stieg die Miete für die Dachwohnung im Haus Bodenmaiser Str. 32, von 54 Mark auf 2,95 Billionen Mark.
• 1945 wurde diese Wohnung fünf Wochen lang von den Amerikanern beschlagnahmt und als Beobachtungsposten genutzt, weil man von dort aus wunderbar den Verkehr in der Bahnhofstraße und der Zwieseler Str. beobachten konnte.
•In den Mieterakten sind auch noch etliche Relikte aus der Nazizeit erhalten. So wurden Wohnungsgesuche mit "Heil Hitler" unterschrieben und die teils villenartigen Häuser und Wohnungen, die in den 30er Jahren erbaut wurden, bekamen vorzugsweise gesinnungstreue Beamte zugesprochen. Wenn die Entnazifizierung nach dem Krieg nicht gelang, mussten diese Mieter die Wohnung verlassen.
•In einer knapp 68 Quadratmeter großen Wohnung lebten nach dem 2. Weltkrieg nicht selten zwei Familien, d.h. manchmal acht bis zehn Personen zusammen, teilten sich eine Küche und ein Klo. Konflikte blieben nicht aus, ein ganz und gar friedliches Zusammenleben war in der damaligen Zeit kaum möglich. Da wurde erbittert um wenige Quadratmeter Garten und falsch platzierte Bohnenstangen gestritten, Mieter errichteten Hühner-, Hasen- und Ziegenställe, andere beschwerten sich über den Gestank.

Im Jahr 1949 teilte die Baugenossenschaft einer Frau mit, dass sie als Alleinstehende keinesfalls Hauptmieterin sein könne. Als Untermieterin dürfe sie aber gerne in ihrer Wohnung bleiben.
• Am 1. Juli 1946 gab es im Haus Gotthard-Oswald-Str. 7 den ersten und einzigen Brandschaden zu verzeichnen. Angeblich sind sämtliche Sitzungsprotokolle der Baugenossenschaft aus den Jahren 1919 bis 1945 "anlässlich der Beschießung und Einnahme durch amerikanische Truppen beim Abbrennen der Wohnung des Kassiers Hofmann zu Verlust gegangen". Es ist aber anzunehmen, dass diese Protokolle wie so vieles andere damals in der allgemeinen Panik als mutmaßliches "Beweismaterial" vernichtet und somit dem Zugriff der Amerikaner entzogen wurden.
•1951 wurde an die Baugenossenschaft ein Schadenersatzanspruch wegen eines Unfalles gestellt, weil angeblich ein Flurlicht nicht gebrannt hat. Ermittlungen ergaben, dass die Verunfallte als Nikolaus verkleidet unterwegs war und zudem eine Sonnenbrille trug. Die Baugenossenschaft war am Sturz im Treppenhaus unschuldig.
•Noch im Jahr 1966 durfte ein unverheiratetes Paar nicht in einer Genossenschaftswohnung zusammenleben.

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