„Winter ist Herausforderung“
Auf 1000 Metern gelegen: Der etwas andere Campingplatz im Bayerischen Wald

19.01.2024 | Stand 01.02.2024, 14:28 Uhr

Für Hartgesottene und Abenteurer: Selbst bei Minusgraden übernachten manche Besucher auch im Zelt. − Foto: privat

Julia (39) und Steffen Lorenz (45) betreiben einen Campingplatz in Finsterau (Landkreis Freyung-Grafenau). Auf 1000 Metern Höhe und quasi am Ende des Landes – und mit besonderen Herausforderungen. Wie kommt man auf so eine Idee?

Rechts ist die Einfahrt zum letzten Haus, links ist noch eine Straße zu erahnen. Die endet allerdings nach wenigen Metern. In einem riesigen Schneehaufen. Dort steht ein Schild: Sackgasse, Landesgrenze. Hier ist man tatsächlich auch gefühlt am Ende des Landes angekommen. Ganz weit weg von allem. Ganz woanders. Anderswo. Kein Wunder, dass sich dieser Name damals aufdrängte. Damals, das war im Jahr 2020. Damals lebten Julia (39) und Steffen Lorenz (45) noch in München. Und dann ging alles ganz schnell. Heute betreiben die beiden bei besagtem letzten Haus einen Campingplatz in Finsterau. Auf 1000 Metern Höhe. Dort, wo Steffen morgens erst mal mit dem Lader den Weg bis zur Straße freiräumen muss. Da, wo er so manchen Gast die letzten Meter mit dem Lader durch tiefen Schnee in den Campingplatz schleppt. Wie kommt man also auf so eine Idee?

„Das war mal so eine Spinnerei“, erinnern sich Julia und Steffen Lorenz, als die PNP sie in ihrem tief verschneiten Anderswo Camp besucht. Um die ganze Geschichte zu erzählen, muss man ein wenig weiter ausholen: Früher, also eigentlich noch gar nicht so lange her, hatten Julia, die aus Schönberg stammt, und Steffen, der in Franken aufgewachsen ist, das, was man solide Berufe nennt: Sie war nach einem BWL-Studium bei einer Marketingagentur angestellt. Er arbeitete nach einem Graphikdesign-Studium ebenfalls in einer Agentur. Beide in München. Sie lernten sich kennen.

Ein Jahr auf Weltreise: „Da schon bissl rumgesponnen“

Und dann war nach kurzer Zeit eine Idee geboren: „Wir nehmen uns eine Auszeit und reisen erst mal ein Jahr durch die Welt.“ Fast der ganze Globus stand dann 2015 und 2016 auf dem Reiseplan. Es ging nach Kanada, in die USA, nach Australien, Neuseeland, Japan, Südostasien. Zunächst waren sie im selbst umgebauten Camper unterwegs, später liehen sie sich Fahrzeuge. Manchmal arbeitete das Paar und erhielt dafür Kost und Logis. „Schon da lernten wir so viele Menschen kennen, die uns inspiriert haben“, erinnert sich Julia. „Da haben wir erstmals rumgesponnen, ob wir nicht was eigenes machen sollten.“

Zunächst ging es aber zurück nach Deutschland und teilweise auch in die alten Berufe. Aber irgendwie waren die beiden angefixt. Das Reisen. Inspirierende Menschen. Mit dem Camper der Natur so nah sein. Sich die Frage stellen, welche Werte man leben und vielleicht auch mit anderen teilen möchte.

„Und dann kam Corona“, erinnert sich das Paar. Und mit Corona kam die Kurzarbeit und damit auch weniger Geld, was im teuren München schnell zu finanziellen Sorgen führen kann. In dieser Zeit kam außerdem Sohn Noah zur Welt – und mit ihm gingen Julia und Steffen während der Elternzeit wieder auf längere Reise. Natürlich mit dem Camper. Zunächst wurde Deutschland abgeklappert, mehr war aufgrund der Corona-Regelungen nicht drin. „Aber am ersten Tag, als Schweden die Grenzen geöffnet hatte, sind wir sofort dorthin übergesetzt.“

Und da war es wieder: Das Camping-Gefühl, das Draußensein in der wilden Natur, die Vorstellung, dass alles irgendwie möglich ist. „Da waren wir uns einig: Wir schauen uns jetzt nach was anderem um.“ Das Camping-Thema lag irgendwie auf der Hand. Zum Verkauf stehende Campingplätze wurden geprüft.

Oberbayern war ihnen zu teuer



Oberbayern fiel schnell raus – „zu teuer“, erinnert sich Julia. Durch ihre Heimat Schönberg war Niederbayern nicht fern. Und die beiden bekamen mit, dass der frühere Besitzer des Finsterauer Campingplatzes ohnehin auf der Suche nach einem Nachfolger war. „Im Sommer 2020 sind wir dann direkt mal hergefahren und haben es uns angeschaut“, erzählt Steffen. Kurz danach war die Familie dann nochmal vor Ort und campte selbst auf dem Platz. Sie gingen wandern, sahen die schroffe und faszinierende Natur des Nationalparks, der direkt hinter dem Camping-Areal beginnt. „Ich war so geflasht davon“, erinnert sich Steffen. „Mir kam gleich ein Begriff in den Sinn: „Bayerisch-Skandinavien.“ Die Entscheidung war gefallen.

Eine Feuerstelle für alle, eine Gitarre zum Ausleihen

Gedanken daran, ob das gutgehen könnte mit einem Campingplatz dort, wo der Winter ewig ist? Sorgen, ob das alles klappen wird mit dem alten Bestandsgebäude und der abgelegenen Lage? Die kleine Familie hat vertraut auf ihre Ideen. Hat vor allem gemacht und nicht gezögert.

Nur wenige Wochen später kauften Julia und Steffen den Campingplatz. Der neue Name, passenderweise: „Anderswo Camp“. „Wir waren von Anfang an so begeistert von diesem Platz.“ So nah am Wald, so wild, so zugewachsen, alles mittlerweile eher selten bei vielen Campingplätzen.

Mit Sack und Pack ging es von München nach Finsterau in der Gemeinde Mauth. Mit Rückenwind. Der war auch nötig. Die ersten Rückschläge kamen prompt: Corona war wieder präsent, der Campingplatz konnte zunächst nicht öffnen. Dann stellte sich heraus, dass neue Wasserleitungen verlegt werden mussten. Der Campingplatz glich erstmal einer Riesenbaustelle. Aber dann ging es voran. Neue Sanitärbereiche wurden gebaut, es wurde ein Wild-Campen-Bereich eingerichtet, zwei Bauwägen für den etwas komfortableren Aufenthalt wurden auf dem Platz aufgestellt, eine öffentliche Feuerstelle geschaffen. Die Gitarre, mit der man sich ans Feuer setzen kann, steht frei zugänglich in einem Aufenthaltsraum im Haupthaus.

„Das war auch einer unserer Grundgedanken“, erzählt Steffen. „Die Menschen sollen ins Gespräch kommen, am Feuer zusammen sitzen, gemeinsam dort das Essen zubereiten, wenn sie wollen.“ Manche Besucher, darunter viele Wiederholer, kommen aber auch einfach nur, weil sie die absolute Ruhe suchen, weil sie keinen Menschen sehen möchten. Alles ist erlaubt auf dem Platz, alles ist gut.

Die Besucher sind unterschiedlich: jung, alt, Abenteurer, Wanderer, Wintersportler. Aber fast alle haben eines gemeinsam: „Die Lebenseinstellung, die Liebe zur Natur, zur Outdoor-Aktivität. Fast nie kann man sich so unmittelbar in der Natur fühlen wie beim Campen“, findet Julia.

Viele Plätze öffnen im April, da ist hier Schneeschmelze

Und: „Wir haben so viele Campingplätze gesehen, auf denen man erstmal eine Litanei an Regeln an die Hand bekommen hat“, sagt Julia. „Das wollten wir nicht.“ Statt einer Regel-Liste gibt es im Haupthaus einen Getränkekühlschrank mit Vertrauenskasse, statt fest abgesteckten Parzellen gibt es 50 Stellplätze ohne Grenzlinien, auf einem Schild steht „Welcome all Cultures, all Ages, all Colours, all Beliefs, all People.“ Als ein englischsprechender Urlauber während des Gesprächs mit der Heimatzeitung hereinschneit und nach Unterkünften fragt, deutet Steffen nach draußen und sagt: „Wir haben zwei Bauwagen, geh einfach rein und schau’s dir an. Feel free and have a look.“

Den Weg zum Bauwagen und auch zu den Stellplätzen hat Steffen am Morgen bereits frei geräumt. Über Nacht hat es stark geschneit. Kommen bei solch einer Witterung überhaupt Camper? „Ja, an Silvester waren wir sogar fast voll“, erinnert sich Steffen. Viele Allrader, versteht sich. Überwiegend kämen dann natürlich Menschen mit Fahrzeug, die eine Standheizung haben. „Aber es gibt auch Abenteurer, die sogar im Winter im Zelt übernachten.“

Aber das Paar, das mittlerweile auch noch die einjährige Tochter Luca hat und in einem Haus direkt neben dem Campingplatz wohnt, macht auch keinen Hehl daraus: „Manchmal ist es schleppend. Wintercampen ist hier noch nicht so im Trend. Das ist schon eine Herausforderung. Hohe Ausgaben, wenig Einnahmen.“ An manchen Tagen seien es nur ganz wenige Camper. Während Plätze im Süden rund ein halbes Jahr Saison haben, ist es in Finsterau nur von Juni bis August so richtig warm. „Selbst im September sind die Nächte hier ja schon oft kalt“, sagt Julia. „Und im April, wo viele Plätze die Saison eröffnen – da ist bei uns gerade Schneeschmelze. Da steht der Platz unter Wasser.“ In dieser Zeit hat das „Anderswo Camp“ auch geschlossen. „Die Besucher wären sonst nur enttäuscht.“

Gab es schon einmal Urlauber, denen der Ort doch zu abgelegen war und die dann weiterfuhren? „Nein, wir bereiten die Besucher ja entsprechend vor“, lacht Julia. Da heißt es dann, dass man am besten gut versorgt anreist. Es gibt beim Camp keinen Supermarkt, kein Wirtshaus, nichts. „Aber die Menschen, die hierher kommen, wissen ja, was sie erwartet. Finsterau ist kein Durchreiseort, an dem man zufällig strandet.“

Am Ende der Welt: „Hierher kommt niemand zufällig“

Das stimmt, Finsterau ist der letzte Ort vorm Wald. Die Straße endet hier. Danach kommt der Nationalpark, der Siebensteinkopf, derzeit die Loipen. Irgendwann dahinter kommt Tschechien. „Mikroabenteuer“, nennt Julia gerne das, was die Urlauber hier erleben. Es ist noch Deutschland, für viele Besucher sogar fast Heimat – und dennoch sieht alles ganz anders aus, ist man weg von allem. „Ein Campingplatz für Menschen, die eigentlich Campingplätze meiden“, hat ein Besucher mal in einer Bewertung geschrieben.

Der Satz hat Steffen gut gefallen. „Wir wollen uns am besten nahtlos in den Nationalpark integrieren“, beschreibt er die nächsten Pläne. Der 45-Jährige hat mittlerweile eine Waldführer-Ausbildung absolviert, will vielleicht Wanderungen für die Gäste anbieten. Etliche Male war er bereits selbst auf den örtlichen Gipfeln, einmal beispielsweise mit einem Kanadier auf dem Lusen bei eisiger Kälte. „Das war zwar brutal – aber auch wunderschön. An solche Sachen erinnert man sich eben. Der Reiz liegt in den Entbehrungen.“ Und was steht sonst noch an? „Wir haben viele Sterne-Fotografen. Weil es hier kaum Lichtverschmutzung gibt. Da haben wir schonmal überlegt, so einen Platz zum Sternegucken herzurichten. Mit Liegestühlen und so, damit man in den Himmel schauen kann“, sagt Steffen. Seine Frau Julia schaut ihn an: „Echt, machen wir des?“

„Klar, warum nicht?“

− jj