Deggendorf
Was Corona für die Mitarbeiter der Deggendorfer Werkstätten bedeutet

"Es war nur am Anfang schön, daheim zu bleiben", sagt Martin Helmhagn (45)

02.12.2020 | Stand 20.09.2023, 5:55 Uhr

Martin Helmhagn an seinem Arbeitsplatz in der Montage der Deggendorfer Werkstätten. Er ist mit dem Verpacken von Heizkörper-Kleinteilen beschäftigt. −Foto: Michaela Arbinger

In der DZ-Themenwoche "Handicap Corona: Wie behinderte Menschen mit dem Virus leben" kommt hier Martin Helmhagn zu Wort. Der 45-Jährige arbeitet seit 20 Jahren in den Deggendorfer Werkstätten. Weil er ein Risikopatient ist, hat ihn das Virus ziemlich ausgebremst. Richtig traurig aber stimmt ihn, dass heuer nichts aus dem Herbstfest der Lebenshilfe wurde: "Es gibt nichts Schöneres."



Beim Essen müssen die Kollegen auf Abstand gehen. Der Kickerkasten ist vorerst weg und es gibt auch kein Raucherzimmer mehr. Es sind vor allem die Gelegenheiten, sich auf einen Ratsch zu treffen, die auch in den Deggendorfer Werkstätten der Lebenshilfe schmerzlich vermisst werden. "Da kann man nichts machen", bedauert Martin Helmhagn. Er macht ein zerknirschtes Gesicht: "Die Gesundheit geht vor."

Ohne die kleinen Gesten im Alltag wird der Umgang miteinander zwangsweise kühler, weiß auch Sozialpädagogin Claudia Stecher: "Keine Berührungen mehr, keine Bussis, kein Drücker – das ist für viele unserer Mitarbeiter echt schlimm." Stecher arbeitet seit 1988 in den Deggendorfer Werkstätten. Sie kennt alle behinderten Mitarbeiter und deren Umfeld. Zumindest an den Standorten Deggendorf, Metten und Osterhofen.

Die Lebenshilfe Deggendorf e.V. wurde 1971 auf Initiative von Eltern und Förderern als Elternvereinigung gegründet und entwickelte sich zu einem großen Arbeitgeber, der sich als Interessensvertretung für Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen versteht. Unterstützt von der Lebenshilfe können Behinderte einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft einnehmen. Um das zu schaffen, betreibt das Sozialunternehmen Werkstätten in Deggendorf, Metten, Osterhofen, Plattling, Regen und Teisnach, Wohnheime in Deggendorf, Plattling und Metten, Wohn-Pflegeheime in Metten und Osterhofen sowie drei Förderstätten in Regen, Metten und Osterhofen. Geschäftsführer Volker Kuppler ergänzt diese Liste um weitere Einrichtungen und Angebote wie die St.-Notker-Schule, Frühförderung, Christophorus-Haus, heilpädagogische Tagesstätte, Werkstatt-Laden und die Offene Behindertenarbeit. Allein in den sechs Werkstätten arbeiten über 600 Menschen, betreut von 300 Mitarbeitern (inklusive Teilzeit). Das Durchschnittsalter der Mitarbeiter liegt bei 40 Jahren. Der größte Teil ist geistig und mehrfach behindert. Ein Drittel lebt in Wohnheimen, der Rest in der Familie oder wird ambulant betreut. Eine Erfolgsgeschichte und ein schöner Beweis dafür, dass es gelingen kann, jeden Menschen in seiner Einzigartigkeit anzunehmen.

Das Betretungsverbot für die Werkstätten während des ersten Lockdowns im Frühjahr war laut Volker Kuppler bislang einmalig in der Geschichte der Lebenshilfe: "Es diente dem Schutz unserer Mitarbeiter, war für sie aber ein krasser Einschnitt." Bis heute sind 15 Menschen mit schweren gesundheitlichen Einschränkungen nicht wieder in die Werkstätten zurückgekehrt.

Auch Martin Helmhagn ist erst seit Ende August wieder an seinem Arbeitsplatz. Er ist seit 20 Jahren in der Montage beschäftigt; momentan verpackt er Heizkörper-Kleinteile für die Firma Kermi. Das erledigt er sehr gewissenhaft täglich von 7.45 bis 16.15 Uhr; freitags ist Mittag Schluss. Für ihn eine wichtige Routine.

Der Deggendorfer ist ein Risikopatient. Er hat zwei Lungenembolien, eine Thrombose und ein akutes Organversagen hinter sich. Außerdem macht ihm sein Übergewicht zu schaffen. 225 Kilogramm war sein Höchstgewicht; mit eiserner Disziplin hat er es auf heute 155 Kilogramm geschafft. "100 sollen es werden", hat sich der 45-Jährige fest vorgenommen. Dafür treibt er zweimal die Woche Sport – eigentlich, wenn nicht gerade Corona ist. Helmhagn ist ein wortgewandter und aufgeschlossener Gesprächspartner. Es überrascht, dass er eine Lernbehinderung hat.

Wie hat er die Zeit daheim erlebt? "Die ersten paar Wochen waren kein Problem, ich habe gelesen und gebastelt. Ich kann mich gut beschäftigen. Aber es war nur am Anfang schön, daheim zu bleiben", erzählt er.

Helmhagns familiäres Umfeld ist stabil. Der Deggendorfer wohnt zusammen mit seinem Bruder in einem Mehrfamilienhaus Am Waffenhammer. Freundin Mandy, die er vor zehn Jahren in der Lebenshilfe kennengelernt hat, lebt in derselben Siedlung: "Aber jeder in seiner eigenen Wohnung."

Der Deggendorfer wird von der Lebenshilfe sechs Stunden die Woche ambulant begleitet, zum Beispiel beim Arzt oder beim Einkaufen; auch die persönlichen Gespräche sind Martin Helmhagn sehr wichtig. Sehr gerne nimmt er die Angebote der Offenen Behindertenarbeit (OBA) wahr. "Da bin ich auch als Beirat tätig", berichtet er stolz. Doch wegen Corona läuft auch die OBA gerade auf Sparflamme. "Normalerweise sind wir beim Kegeln 30 Leute. Das geht natürlich auch nicht mehr." Das sei zwar schade, findet er, doch momentan ist er ohnehin vorsichtig: "Wenn ich merke, dass mir jemand zu nahe kommt, sage ich das auch." Regeln sind ihm in Corona-Zeiten heilig. Also hält er sich daran: "Ich wasche und desinfiziere mir bestimmt 50-, 60-mal am Tag die Hände."

Kompletter Lockdown, teilweiser Lockdown, soziale Distanz: Wie halten eigentlich behinderte Menschen untereinander Kontakt? "Über WhatsApp und Facebook", antwortet der 45-Jährige. "Viele machen das über Sprachnachrichten."

Trotzdem: Das persönliche Miteinander ist durch nichts zu ersetzen. Und so schwärmt Martin Helmhagn von Betriebsausflügen, Weihnachtsfeiern und vor allem vom Herbstfest der Lebenshilfe mit Livemusik und Ehrungen. "Es gibt nichts Schöneres. Aber heuer geht die Gesundheit vor."