Kommentar
Zur Lage in Belarus: Kriegserklärung an das Volk

<Autor>Von Ulrich Krökel</Autor>

14.09.2020 | Stand 21.09.2023, 1:35 Uhr

Zur Lage in Belarus:Der dreißigste Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung naht. Damit sind auch die Erinnerungen wieder da, an die Freude, aber auch an die vorangegangen friedlichen Revolutionen in Europa. Die Bilder von damals überschneiden sich auf fast surreale Weise mit den Szenen, die sich derzeit in Belarus abspielen. Jedes Wochenende gehen dort Zehntausende auf die Straßen. Sie fordern Neuwahlen. Aber sie sind auch bereit zu reden, zur Not sogar mit dem Diktator Alexander Lukaschenko.
Die Lage schreit geradezu nach einem Runden Tisch. Aber nein. Lukaschenko hat seiner eigenen Bevölkerung den Krieg erklärt. Er lässt prügeln, foltern und in Einzelfällen sogar töten. Reden will er zwar auch, aber nicht mit seinen Landsleuten. Lukaschenko reist lieber zum russischen Präsidenten Wladimir Putin, um mit ihm allerlei aktuelle Fragen zu besprechen. Worüber genau die beiden heute verhandeln wollen, weiß außerhalb der Präsidentenpaläste in Minsk und Moskau niemand.
Wahrscheinlich wird das auch nach dem Treffen so bleiben. Eine Unterrichtung der Öffentlichkeit ist nicht geplant. Man darf also gespannt sein, wie weit Putin die Daumenschrauben anzieht. Denn klar ist, dass Lukaschenko seinem "älteren Bruder", wie er den Kremlchef nennt, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Wirtschaftlich, militärstrategisch und nun auch politisch. Zu hart hat die Demokratiebewegung Lukaschenko getroffen. Senkt Putin den Daumen, käme das Aus für den "jüngeren Bruder" schnell.
Derzeit jedoch dürfte das Interesse in Moskau an einem Machtwechsel in Minsk gegen null tendieren. Die Menschen in Belarus und in Russland würden einen Abgang Lukaschenkos als Zeichen der Schwäche deuten. So zumindest funktionieren die klassischen Deutungsmuster im Kreml. Tatsächlich sind Belarus-Effekte in Russland nicht auszuschließen.
Die Regionalwahlen gestern in dem Riesenreich haben trotz der Vergiftung von Putin-Herausforderer Alexei Nawalny für eine Mobilisierung der Opposition gesorgt. Deswegen ist es auch eher unwahrscheinlich, dass Putin von Lukaschenko eine Vollendung des russisch-belarussischen Unionsstaates verlangt, den es seit den 90er Jahren gibt. Eine "Wiedervereinigung" der ehemaligen Sowjetrepubliken wäre den Menschen in Belarus nicht vermittelbar. Aber auch in Russland würde dies kaum patriotische Gefühle auslösen wie einst die gewaltsame "Heimholung" der ukrainischen Krim. Das wahrscheinlichste Szenario ist deshalb ein von Putin kontrolliertes Zeitspiel – auf Kosten der Menschen in Belarus.