50. Jazzwoche Burghausen
"Wir dürfen nur eins nicht machen: wieder aufhören" – Leiter Joe Viera im PNP-Interview

25.03.2019 | Stand 20.09.2023, 22:35 Uhr

Hier leitet er einen Jazzkurs, seit dem Jahr 1970 dirigiert er auch erfolgreich die Burghauser Jazzwoche: Joe Viera. −Foto: Bernhard Furtner

Vor dem Bahnhof, im Auto, da zündete es. Der Münchner Musikprofessor Joe Viera hatte in Burghausen einen Vortrag über US-Jazz gehalten, am Morgen holte ihn Jazzaktivist Helmut Viertl vom Hotel ab, die Männer warteten auf den Zug, redeten und waren sich einig: Wir organisieren ein Jazzfestival! Hier in Burghausen! Gleich nächstes Jahr! Und gleich eine ganze Woche! Seit 50 Jahren leitet der heute 86-jährige Joe Viera nun ununterbrochen die Internationale Jazzwoche Burghausen. Gleich zu Beginn des Interviews zum Jubiläum von 26. bis 31. März verrät der Mann mit dem bröseltrockenen Humor ein todsicheres Rezept für eine goldene Zukunft der Jazzwoche.

Und ich bin nicht abgelöst worden . . .Herr Viera, 50 Jahre Internationale Jazzwoche Burghausen, 50 Jahre unter Ihrer Leitung, das Festival steht glänzend da. Wie glücklich sind Sie darüber?
Joe Viera: Das freut mich enorm, und das freut mich schon seit Langem! Und mir war auch nach dem fünften Festival, als wir mit Oscar Peterson, Joe Pass und Joe Venuti zum ersten Mal absolute Weltklasse hatten, klar: Wenn wir so weitermachen, dann können wir das 20., 30. 40. und 50. Jubiläum feiern. Wir dürfen nur eins nicht machen: wieder aufhören.

Der Bayerische Rundfunk hat vor zwei Jahren aufgehört mit den TV-Aufzeichnungen, die Konzerte laufen jetzt im Internet. Spüren Sie, dass was fehlt?
Viera: Ja, weil mich Leute ansprechen, dass sie die Fernsehsendungen vermissen. Mich würde nur interessieren, was der Bayerische Rundfunk mit dem Geld, das er früher für den Jazz in Burghausen ausgegeben hat, heute macht. Vielleicht "Dahoam is dahoam", diese elend langweilige Sendung, die ich mir nie ansehe, nachdem ich sie einmal angeschaut habe.

Was haben Sie damals Weltstars wie Oscar Peterson und Ella Fitzgerald erzählt, warum sie jetzt dringend mal in Burghausen spielen müssen?
Viera: Das läuft ja meistens über Agenturen. Oscar Peterson haben wir über Fritz Rau gekriegt, der in Frankfurt die Agentur Lippman und Rau betrieben hat. Ich kannte ihn, und er hatte den direkten Draht zu Norman Granz, bei dem Peterson unter Vertrag war. Es geht immer um Europatourneen, wo Flugkosten zwischen Veranstaltern geteilt werden können, sonst ist vieles überhaupt nicht bezahlbar. Bei anderen Agenturen mussten wir uns Schritt für Schritt Vertrauen schaffen.

Wie genau kamen Sie drauf, dass Burghausen ein Festival braucht, als Sie Helmut Viertl 1969 in Burghausen zum Bahnhof heim nach München gefahren hat ?
Viera: Wir sind in Helmut Viertls VW gesessen, er hat mir erzählt, was er schon alles gemacht hat: Er hatte einen Jazzclub in Neumarkt in der Oberpfalz gegründet, Vibrafon gespielt als Amateurmusiker, er kam beruflich nach Neuburg an der Donau und hat dort den Jazzclub gegründet, in den 60ern kam er dann als Gerichtsvollzieher nach Burghausen. Ich habe gemerkt: Er würde gern mehr machen, und ich hatte Verbindungen zu Musikern. Und so haben wir noch am selben Vormittag beschlossen: Wir machen zusammen ein Festival, und zwar gleich sechs Tage, und gleich im März, weil da niemand anderer in Europa ein Festival hatte. Die Kombination ist ideal: Helmut Viertl hat die Organisation gemacht, später wurde er abgelöst von Herbert Hebertinger und schließlich von Herbert Rießl. Und ich bin nicht abgelöst worden . . .

50 Jahre überlebt man als Festival nur mit großer Akzeptanz des Publikums und der Geldgeber – wie haben Sie die erhalten?
Viera: Mit der Musik selbst! Und mit der Tatsache, dass ich Musiker bin und an der Musik genauso viel Spaß habe wie eh und je. Dieses Feuer muss ständig brennen. Das andere sind die vielen Burghauser, die sich für Jazz interessieren und die alle mithelfen. Wir haben ein hervorragendes Team von ungefähr 60 Leuten, die Musiker vom Flughafen holen, Künstler hinter der Bühne betreuen, als Platzanweiser arbeiten etc. Wenn es ein Geheimnis gibt, dann ist das: Teamwork.

Sehen Sie in Burghausen besondere Voraussetzungen oder hätte das in jeder vergleichbaren Stadt auch funktioniert?
Viera: Nein, sicher nicht. Helmut Viertl hatte damals z. B. auch ein Stellenangebot in Augsburg. Augsburg war nie eine Jazzstadt und wäre auch mit uns beiden keine geworden. Das hat mit der Mentalität der Menschen zu tun, die – vielleicht weil Burghausen ein Grenzort ist – gegenüber dem Andersartigen toleranter eingestellt sind. So pauschal würde ich das mal formulieren.

Das breite stilistische Programm scheint ein weiterer Schlüssel zum Erfolg der Jazzwoche.
Viera: Ich wollte von Anfang an ein Allround-Festival. Und keines, das sich nur auf bestimmte Themen konzentriert oder nur aufs Neue. Es hat auch immer wieder Kritik gegeben, dass wir nicht genug Neues bringen – aber für mich ist ein Festival eben keine Neuheitenmesse. Und wir wussten auch von Anfang an, was wir nicht machen wollten, das ist sehr hilfreich: keine Acht-Stunden-Marathon-Konzerttage, wo man nach drei Stunden schon total erschöpft ist und nichts mehr aufnehmen kann. Kein Open Air und kein Zeltfestival, weil das für Musiker und Hörer nicht optimal ist.

Was muss die Jazzwoche tun, damit sie fit bleibt für die nächsten Jahrzehnte?
Viera: Eigentlich nichts. Aber wenn wir einen größeren öffentlichen Zuschuss kriegen würden, könnten wir noch interessantere Dinge machen.

Wie zum Beispiel?
Viera: Spitzengruppen, die nur wenige kennen und wo es nur wenige Interessenten für eine Europatournee gibt. Gruppen aus Südamerika zum Beispiel. Also, mir würde da Einiges einfallen.

Wissen Sie schon, mit welchem trockenen Spruch Sie die 50. Jazzwoche eröffnen werden?
Viera: Noch nicht. Manchmal fällt mir fünf Minuten vorher spontan was ein. Manchmal habe ich einen Spruch dabei, der mir vor drei Monaten eingefallen ist.

Neben Valentin und Erhardt habe der Jazz Ihren Humor geformt, haben Sie mal gesagt. Wie ist das zu verstehen?
Viera: Das hat damit zu tun, dass wir Jazzmusiker sehr viel improvisieren. Und improvisieren kannst du nur, wenn du spontan bist. Das ist eine Voraussetzung fürs Spielen von Jazz – und es ist auch eine Voraussetzung für Witz. Wenn Sie mal mit Jazzmusikern zusammen sind, vor allem mit erfahrenen, dann werden sofort Geschichten erzählt, weil wir Jazzer offenbar einen besonderen Sinn für Situationskomik haben. Einer, der den geschärften Blick für diese Komik nicht hat, wird wahrscheinlich nie ein guter Jazzmusiker werden.

Sie schreiben auch satirische Gedichte und Kurzgeschichten – wo kann man die lesen?
Viera: Ja, da habe ich schon eine ganze Menge beieinander. Und ich schreibe ja an meiner Autobiografie. Noch habe ich keinen Verlag – wissen Sie vielleicht einen?

Da lässt sich sicher was machen.
Viera: Erst soll die Biografie rauskommen, und dann könnte man die satirischen Geschichten und Gedichte in einem kleineren Band nachschieben.

Sie selbst haben keine akademische Musikausbildung, weil es die im Jazz damals nicht gab. Seit den 60er Jahren haben Sie sich systematisch in Jazzdidaktik eingearbeitet und wurden zum Dozenten – was gab den Anstoß?
Viera: Der Leiter des internationalen Musikverbands "Jeunesses Musicales", Josef Anton Riedl, hat eine Jazzkonzertreihe betreut und mich gebeten, das Programm zu machen, das war ein gutes Training für die Jazzwoche. Zweitens ist er auf die Idee gekommen, Jazzworkshops an Wochenenden zu veranstalten und hat mich gefragt, ob ich da mitmachen will. Dann kamen größere Kurse in Regensburg dazu, in Weikersheim und Remscheid, wo ich von 1963 bis 1986 unterrichtet habe. Dort haben mich bayerische Teilnehmer gefragt, warum es so was nicht in Bayern gibt. Und so haben wir ab 1972 neben dem Festival die ersten Kurse in Burghausen abgehalten.

Und dann ging es an die Hochschulen.
Viera: Die Nachfrage wurde immer größer, dann kam die Universität in Duisburg daher, die Musikhochschule in Hannover und in München, überall habe ich Lehraufträge gekriegt. Das war eine Riesenarbeit, aber ich habe das alles angenommen. Ich habe gedacht, das ist spannend, und mit Zug und Flugzeug lässt sich das schon bewerkstelligen. Wenn mir 1955, als ich angefangen habe, Jazz zu spielen, einer gesagt hätte, dass ich mal so viel unterrichten würde, hätte ich gesagt: niemals! Jazz zu unterrichten war damals verpönt, undenkbar. Es war sehr schwer, Lehrer zu kriegen für Jazz, aber ich hab immer gedacht: Doch, man müsste das unterrichten können. Und als die Gelegenheit kam, habe ich sie ergriffen.

Sie haben mal gesagt: Mit dem Physikstudium zum Diplomingenieur habe ich Denken gelernt, mit dem Jazz das Fühlen – das ist ein schönes Zitat, aber war das wirklich so?
Viera: Doch, genau so ist das. Das heißt nicht, dass man im Jazz nicht auch denken kann, aber das sind die beiden Schwerpunkte, aus denen sich mein Leben zusammensetzt. In der Physik lernt man, so objektiv wie möglich zu sein – und das ist schon ein ganz gutes Mittel, um die Eotionen des Jazz besser in den Griff zu kriegen.

Als Kind haben Sie den Jazz auf Schellackplatten der Eltern und mitten im Zweiten Weltkrieg auf ausländischen Sendern entdeckt. Wie fanden das Ihre Eltern, dass verbotene Sender in der Münchner Wohnung liefen?
Viera: Ganz einfach: Ich habe immer gewartet, bis sie weg sind. Ich wollte sie nicht in die Verlegenheit bringen, dass sie mir erklären müssen: Wenn du zu laut machst, hören’s die Nachbarn. Das hat mich schließlich zum Selber-Radiobauen geführt, und das war wiederum der Einstieg ins Physikstudium. Übrigens ein sehr schönes Hobby, Radios bauen, ebenso der Kurzwellen-Amateurfunk!

"Das ist alles ziemlich beunruhigend"Noch mal zurück zu den Memoiren. Wie weit sind Sie schon?
Viera: Ich bin bei 1971 angelangt. Bis zum Sommer will ich fertig sein. Das ist nicht einfach, aber eine spannende Arbeit: Ich muss alte Kalender und Akten und Briefe durchschauen, dann schreibe ich Fakten und meine Gedanken dazu auf, auch über meine politische Einstellung. Gegen Ende wird das wahrscheinlich noch mehr. Und im Nachwort kommen die Gedanken zu den allerneuesten Entwicklungen dazu.

Wie haben sich Ihre politischen Einstellungen denn entwickelt?
Viera: In der Nazizeit habe ich mich für Politik überhaupt nicht interessiert,. Das war für mich die einzige Möglichkeit, um mit der Nazizeit fertig zu werden. Die Zeit war mir einfach zu laut, zu hektisch, zu aufdringlich, zu angeberisch. Da brauche ich gar keine Erwachsenen, die mir Ratschläge geben, das war einfach mein Gefühl zu diesen Dingen. Aber dann schlagartig nach dem 8. Mai 1945 ist mein politisches Interesse erwacht, Begriffe wie Parlament waren ja eigentlich nicht existent in der Nazizeit, und auf einmal ist ein wirklich demokratisches Leben entstanden. Vielleicht wäre ich auch aktiv in die Politik gegangen, aber dann hätte ich die Musik zu sehr auf die Seite schieben müssen.

Stellen Sie sich vor, die Memoiren wären schon fertig: Was stünde da übers Jahr 2019 drin?
Viera: Da würde drinstehen, dass wir uns in einer ganz unangenehmen politischen Situation befinden. Dieser Rechtsdrall, der auf einmal auftaucht, der ist erschreckend. Und ich finde, dass von Seiten des Staates zu wenig gegen die Extremisten von links und von rechts getan wird. Viel zu wenig! Und dann die Geschichte mit dem Trump und die Geschichte mit dem Brexit, das ist alles ziemlich beunruhigend.

Umso beunruhigender, wenn man im Krieg aufgewachsen ist?
Viera: Ja, das ist möglich. Durchaus möglich.
Das Gespräch führte Raimund Meisenberger.