Symphonieorchester des BR
Wenn Jansons zuhört, hat er nun seinen Frieden: Simon Rattle dirigiert Mahlers Neunte

28.11.2021 | Stand 21.09.2023, 3:13 Uhr

Standing Ovations gab es für das Symphonieorchester des BR und seinen künftigen Chefdirigenten Simon Rattle am Samstagabend in der neuen Münchner Isarphilharmonie. Wegen der bayerischen Pandemieregeln durften nur 450 statt 1800 Menschen in den Saal. −Fotos: Astrid Ackermann

Mehr Neugierde kann ein Konzert kaum wecken: Bayerns international bedeutendstes Orchester spielt mit neuem Chef in der neuen Münchner Isarphilharmonie – ausgerechnet ein Werk, das auch sein 2019 gestorbener Vorgänger Mariss Jansons geliebt, gepflegt und auf CD festgehalten hat: Am Freitag und Samstag dirigierte der Brite Simon Rattle (66), der 2023 offiziell auf Jansons als Chefdirigent beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks folgt, Gustav Mahlers neunte Sinfonie.

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Trotz aller Studien und Erfahrungen mit vollen Sälen und so gut wie keinen Infektionen bei den Festspielen etwa in Salzburg oder Passau durften nur je rund 450 von 1800 Gästen in den Saal, die ohnehin genesen oder geimpft und zusätzlich frisch getestet und sowieso maskiert waren. Lage und Stimmung sind freilich brenzlig aktuell, die Regelungen scheinen aber übers rationale Maß hinaus eher symbolischer Natur zu sein.

Die vom Edelakustiker Yasuhisa Toyota abgestimmte anthrazitfarben-geborgene Holzverkleidung im Saal lenkt alle Aufmerksamkeit auf die Bühne und den Klang. Sofort fällt auf, dass Rattle – ohne Frack, ohne Noten, ohne Pult – einen ganz anderen Mahler präsentiert als Jansons es tat. Hatte der Lette dieses reife große Werk zwischen Spätromantik und Moderne in seinen späten Jahren drängend existenziell aufgefasst, so lässt Simon Rattle die Musik im ersten schon Satz gelassener, ja spielerischer, vielleicht Berlinerischer klingen.

Auf Jansons eingeschossene Hörer könnten im zweiten Satz mit seiner rustikal-grotesken Landler-Karikatur und in der fragmentiert-dissonanten Burlesque des dritten Satzes den St. Petersburger Perfektionismus vermissen. War Jansons doch ein Klangtüftler, der penibel die Lautstärke der Instrumentalgruppen zueinander einstellte, bis seine Vorstellung von Balance und distinkter Linienführung verwirklicht war – was dem Hörer auch komplexe Werkstrukturen verständlich aufschlüsselte. Simon Rattle lässt in München das Disparate eher disparat tönen und entfesselt im Tutti einen brausenden Tumult, der mitnichten analysiert und seziert werden will.

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Mahlers letztes Werk endet untypisch in mystischer Ruhe, manche empfinden den Schlusssatz als das traurigste aller Adagios, gemeint ist es freilich als feierlichste Vertonung des Todes. Was der künftige BRSO-Chef Simon Rattle aus diesem Finalsatz macht, ist schier überirdisch. Das Orchester hebt ganz auf den jenseitigen Charakter ab, lässt die offen daliegende Leere erbarmungslos langsam durchfühlen und steigt aus dem Abgrund nur noch himmelan. Mit Daumen auf Zeige- und Mittelfinger reibt Rattle die Delikatesse des Pianissimos herbei, mit zur Schale erhobenen Händen erbittet und schöpft er das dreifache Piano, mit zitternd sinkender Hand fordert er die vier und fünffache Ruhe – unfassbar, wie Mahlers Anweisung "ersterbend" hier wahr wird. Die formidable Akustik im Ersatz-Gasteig tut das ihrige dazu.

Wenn am Ende die Harfe ihr wiegendes Marschmotiv beginnt, dann tönt es, als ginge man mit Tippelschritten durch stockfinstre Nacht dem Licht – und den Sphärenklängen der Streicher – entgegen. Ein letztes Aufbegehren, einmal noch durchfluten alle Kräfte und alles Schöne den Menschen, dann ergibt er sich und vergeht im ewigen Frieden. Simon Rattle zelebriert diesen Moment wie einen heiligen Akt. Sollte Jansons oben ihm zuhören, dann hat auch er nun seinen Frieden. Er weiß sein Orchester in guten Händen. Vielleicht in den besten.

Raimund Meisenberger