Südostbayern
Von Schreibabys geplagte Eltern: "Man entwickelt Hass auf das Kind"

28.03.2018 | Stand 20.09.2023, 23:39 Uhr
Christina Fleischmann

Schreibabys wie Eva können ihre Eltern zur Verzweiflung bringen. Als Schreibaby gilt ein Säugling, der mehr als drei Stunden pro Tag an mehr als drei Tagen die Woche und über mehr als drei Wochen hinweg laut weint. − Fotos: Martin Zinggl

Jedes fünfte Baby in Deutschland schreit übermäßig viel. Manche Eltern verzweifeln, entwickeln sogar Aggressionen gegen ihr Kind. Ein Besuch in einer Schreiambulanz.

Eine Nacht im Juni 2017 war es so schlimm, dass Simone Stettner (Name von der Redaktion geändert) ihre Tochter loswerden wollte. Sie wiegte Eva in den Armen. Doch das Kind schrie noch ausdauernder als in den Nächten zuvor, lief rot an, wurde ganz warm. "Wenn meine Tochter so schreit, ist sie in einer Welt, zu der ich nicht durchkomme", sagt Simone Stettner. "Man entwickelt einen Hass auf das Kind. Ihr Mann sagte einmal, hätte er das gewusst, hätte er kein Kind gewollt.

Eva liegt bäuchlings am Boden und greift nach einem kleinen gelben Lastwagen. Sie lutscht an dem Spielzeug, lacht, ihre tiefblauen Augen erforschen das Wartezimmer. "So wie jetzt ist es ein Traum", sagt Simone Stettner. Sie besucht zum siebten Mal eine Schreibaby-Beratung. Eva ist jetzt acht Monate alt. Es sei mit ihr schon viel besser geworden, mittlerweile schreie sie nur noch drei Stunden am Stück. "Aber jeder Tag ist immer noch ein Kampf." Ins Wartezimmer tritt eine große Frau mit grauem, schulterlangem Haar. "Tut mir leid, dass Sie länger warten mussten", sagt Babytherapeutin Ingrid Löbner (60). Eva ist heute ihr drittes Schreibaby, die Nachfrage ist groß. Die Tochter auf dem Arm folgt Simone Stettner in Löbners Sprechzimmer. Eva verzieht ihr Gesicht, die Augen füllen sich mit Tränen. Sie beginnt zu schreien.

20.000 Säuglinge pro Jahr in Bayern betroffen

Auf einem schwarzen Sofa wiegt Simone Stettner das Kind hin und her. Vor ihr liegen Spielsachen, eine Holzeisenbahn, eine gestickte Puppe, Plastiktiere. Eine Stehlampe taucht den Raum in warmes Licht. "Es hat sich gebessert, aber ich stoße immer noch an meine Grenzen", sagt sie. Ingrid Löbner lächelt. "Zu Ihrem Trost: Andere Eltern würden ihr Kind auch gerne zurückgeben. Aber es gibt keinen Retourenschein."

Jedes fünfte Kind in Deutschland gilt als Schreibaby. So werden Säuglinge genannt, die aus unerklärlichen Gründen ungewöhnlich viel schreien. Viel, das bedeutet: mehr als drei Stunden pro Tag an mehr als drei Tagen die Woche und über mehr als drei Wochen hinweg. In Bayern ist das Schätzungen zufolge bei rund 20.000 Säuglingen pro Jahr der Fall. Oft reguliert sich die innere Unruhe in den ersten Monaten von selbst. Manchmal dauert sie nach einem halben Jahr noch an. Für Eltern bedeutet das Stress, den sie wieder auf das Kind übertragen. Diesen Teufelskreis zu durchbrechen ist schwierig.

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