Vom Ingenieur zum Tellerwäscher

Wie ein Hutthurmer Auswanderer in Mexiko in Not geraten ist und warum er trotzdem bleiben will

13.06.2020 | Stand 02.04.2024, 9:05 Uhr

Auf sich allein gestellt – so erlebt der Hutthurmer Stephan Nirschl sein Auswandererdasein in Mexiko. −Foto: privat

Hutthurm/Mexiko. Mexiko ist ein interessantes Land, das viel Schönes zu bieten hat. Kein Wunder, wenn mancher Europäer die Gelegenheit beim Schopf packt und seine berufliche Tätigkeit nach Lateinamerika verlegt, sofern ihm ein entsprechendes Angebot gemacht wird. Auch Stephan Nirschl aus Hutthurm bekam diese Möglichkeit: Der Ingenieur sollte in Puebla für Audi und Volkswagen Airbags testen und ging dafür nach Lateinamerika. Vier Jahre später ist er dort gestrandet. Kontakt zur alten Heimat hält er über seine Freundin Melanie Weissinger, die versucht, ihn zu unterstützen.

Räuber nehmen ihm alles, er lebt von Kokosnüssen Im Mai 2016 reist Nirschl in die mexikanische Stadt Puebla, wie er der PNP via Video-Chat erzählt. Der 45-jährige Ingenieur hat keine Familie und baut sich in der Ferne ein neues Leben auf. Dazu gehört für den tierlieben Mann auch ein Hund: "Am dritten Tag in Mexiko habe ich meinen ersten Hund von der Straße geholt", erzählt er. Zudem habe er angefangen, Straßenhunde zu füttern und sterilisieren zu lassen, um die Not der Tiere etwas zu lindern.

Zwei Jahre lebt Nirschl in Mexiko, dann werden die Werksverträge der deutschen Mitarbeiter nicht mehr verlängert, erzählt der Hutthurmer – "aus Kostengründen". Zurück nach Deutschland will er deshalb allerdings nicht. Er beschließt, zu bleiben und sich einen neuen Job zu suchen. "Ich hatte von Mexiko kaum etwas gesehen. Also habe ich mir einen alten VW-Combi gekauft und mich durch halb Mexiko hindurch auf den Weg gemacht, um in Playa del Carmen einen Job als Hausmeister anzutreten", erzählt er. "Alles, was ich besaß, packte ich in den Kombi, ebenso meine drei Hunde und eine Katze."

Die Fahrt verläuft reibungslos, bis der Ingenieur Tabasco erreicht. "Dort hatte ich ein Problem mit dem Getriebe meines Wagens – und das mitten im Dschungel", berichtet Nirschl. Und es sollte noch schlimmer kommen: "Ich wurde ausgeraubt, mein ganzes Hab und Gut war weg. Schuhe, Kleidung, Fernseher und der Kühlschrank, unter dem ich Geld versteckt hatte."

Er schlägt sich durch bis Playa del Carmen, wo der nächste Schock auf ihn wartet: "Den versprochenen Job samt der in Aussicht gestellten neuen Arbeitserlaubnis gab es gar nicht. Ein Deutscher hatte mich reingelegt. Ich habe mich dann erst einmal von Kokosnüssen und Bananen ernährt und musste das chlorversetzte Leitungswasser trinken, das es dort gibt, weil ich nichts mehr hatte", erzählt der Ingenieur. Für die Tiere holt er Abfälle von Restaurants.

Da seine Papiere abgelaufen sind und das Geld bald knapp wird, schlägt er sich mit Gelegenheitsjobs durch, vor allem in Restaurants. "Für einen Hungerlohn, aber es reichte zumindest für Miete, Hundefutter und Tacos für mich", erzählt er im Video-Chat. Ein Stück Kuchen oder guter Kaffee werden zu Luxusartikeln.

Rund 200 Pesos verdient er am Tag, umgerechnet etwa acht Euro. Dafür habe er 12 bis 14 Stunden arbeiten müssen, erzählt er. "Zum Vergleich: Ein Schnitzel kostet rund 180 Pesos." Einmal pro Tag darf er im Restaurant essen, für die Tiere hebt er davon etwas auf. Vom Ingenieur zum Tellerwäscher.

Nirschl lebt das "typisch mexikanische Leben", wie er erzählt: "Mit diesem Verdienst war es mir nicht möglich, Geld zu sparen, um die nötigen Arbeitspapiere zu erhalten und wieder besser bezahlte Jobs zu bekommen."

Nach zwei Jahren Überlebenskampf bekommt der Hutthurmer dieses Jahr die Chance, in einer Touren-Firma anzufangen. "Ich wurde auf eine Schulung eingeladen und hatte die Möglichkeit, ein Objekt im Dschungel zu mieten – mit Zimmervermietung, Dog-Sitting, Backen von deutschem Brot und so weiter für die Touristen." Doch dann kommt das Corona-Virus und zerstört seine Pläne. "Der Tourismus ist komplett weggefallen, das Leben hier steht quasi still. Und ich stehe vor dem Nichts", resümiert der 45-Jährige im Gespräch mit der PNP. Jobs, um wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen, gebe es nicht. "Geschweige denn ein Sozialsystem oder Hilfe vom Staat."

Herumsitzen wolle er aber auch nicht, deshalb engagiert er sich in der Armenhilfe, wie er erzählt; stellt Essenspakete zusammen und liefert sie aus, dafür bekommt er auch Lebensmittel geschenkt. "Außerdem arbeite ich an einem Projekt namens Green Wave, um hier den Dschungel und die Lagune zu entmüllen und eine Art Recyclinghof zu installieren." Viele Leute wollten sich dafür engagieren, sagt er, deshalb arbeitet er gerade an einer Internetseite und sucht potenzielle Unterstützer. "Pläne habe ich genug", erzählt er. "Im Moment sieht halt die Realität anders aus."

Nach einem Unfall habe er nun auch noch mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen, seine Augen sind betroffen. Arztbesuche könne er sich aber nicht leisten. "Zudem ist das öffentliche Hospital im Moment geschlossen und steht nur für Coronapatienten zur Verfügung", erzählt der Hutthurmer. Mit diesem Handicap sei es für ihn noch schwieriger, eine Arbeit zu bekommen.

Momentan lebt Nirschl als Tagelöhner in Mexiko. Für Miete und Essen reiche sein Geld, auch durch die Unterstützung von Melanie Weissinger aus Winzer, seiner besten Freundin, wie er sagt. Eine Perspektive habe er aber nicht. "Ich bin da in einen Teufelskreis gekommen, aus dem ich ohne Hilfe keine Chance habe, wieder herauszukommen", ist ihm klar.

Sein Traum: ein kleines Grundstück im DschungelNach Deutschland zurückzukehren ist für den 45-Jährigen trotzdem keine Option: "Ehrlich gesagt, will ich gar nicht mehr zurück." Sein Ziel: "Eines Tages ein kleines Grundstück im Dschungel zu haben, im Einklang mit der Natur zu leben und Gemüse selbst anzubauen. Ich hatte ein Projekt, um Straßenhunden zu helfen, doch im Moment muss ich mich erst einmal selber retten."

Dabei möchte ihm Melanie Weissinger weiterhin helfen. Warum, erzählt die Frau im Gespräch mit der PNP: "Stephan ist ein so liebevoller Mensch, der eigentlich nichts, gar nichts besitzt und trotzdem jede Sekunde zusieht, dass er noch etwas an andere weitergeben kann."