Chieming
Vierköpfige Familie soll abgeschoben werden

01.12.2021 | Stand 21.09.2023, 4:40 Uhr
Hans-Joachim Bittner

Unsichere Zeiten für Familie Hakobyan aus Chieming, vorne von links: Papa Argam, Sohn Artak, Tochter Lina mit einigen ihrer Tischtennis-Pokale, und Mama Diana. TSV-Trainer Sepp Radlbrunner (hinten links) und Abteilungsleiter Heinz Felten versuchen, bestmöglich zu helfen. −Foto: Bittner

Sie spielt am liebsten Tischtennis. Die Rückhand ist ihre große Stärke. In der Schule würde Lina Hakobyan gern auf die Pausen verzichten, weil sie so gerne lernt, wissbegierig alles aufsaugt. Die bald Zwölfjährige kam am 30. Mai 2016 nach Deutschland. An diesem Tag wurde ihr Bruder Artak zwei Jahre alt. Mit ihren Eltern – Mama Diana und Papa Argam – flogen sie aus dem über 3500 Kilometer entfernten Eriwan, der Hauptstadt Armeniens, nach München. Viereinhalb Monate verbrachten die Vier in der Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber der Bayern-Kaserne in der Heidemannstraße. Dann ging es weiter nach Chieming. Dort leben sie seitdem stark beengt in zwei kleinen Räumen der örtlichen Gemeinschaftsunterkunft. Und Lina spielt beim TSV höchst erfolgreich Tischtennis.

Nierenkranker Vater bekommt Behandlung nur in Deutschland

Weil der Vater Dialyse-Patient ist – mittlerweile hat er das fünfte und somit schwerste Stadium der chronischen Niereninsuffizienz erreicht –, hatten die Hakobyans Zuflucht in Deutschland gesucht. Argams Krankheit ist durch eine schleichende Verschlechterung der Nierenfunktion gekennzeichnet, im Grunde benötigt er schon jetzt eine Spenderniere. Er ist nicht auf die gängige Hämodialyse, die sogenannte Blutwäsche, sondern die Peritonealdialyse, also die Bauchwäsche, angewiesen. "Diese gibt es in Armenien nicht", sagt seine Frau Diana, die ihre Heimat als angesehene Geschichtslehrerin verließ. Ihre Qualifikation ist in Deutschland allerdings nicht anerkannt. Die Familie tat den schweren Schritt, alles hinter sich zu lassen, um das Leben des Ehemanns und Vaters zu retten. Durch ein spezielles Gerät kann Argam die Dialyse nun zumindest nachts, acht Stunden lang, durchführen und die Blutbeutel selbstständig wechseln. Jedoch muss zur Sicherheit immer jemand in der Nähe sein, weil er extrem hohen Blutdruck hat.

Zu schaffen macht der Familie, dass das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sie zurück nach Armenien abschieben will. "Ein völliges Unding", sagt Sepp Radlbrunner, Lizenz-Tischtennis-Trainer beim TSV Chieming. "Nicht nur, weil das eine unbeschreiblich liebe Familie ist. Die Mutter setzt sich mit ihrer sozialen Arbeit unglaublich für unsere Gesellschaft ein."

Vor drei Jahren ist die kleine Lina zum ersten Mal zum Tischtennis-Schnuppertraining gekommen, "um die neue Sprache zu lernen", wie sie sagt. Seitdem kümmert sich die TSV-Abteilung intensiv um die Hakobyans. "Sie sind hier absolut integriert, sprechen gut Deutsch", sagt Spartenchef Heinz Felten. Im Verein könne niemand verstehen, warum die Familie nun zurück nach Armenien soll. Diana Hakobyan hat einen halbjährigen Pflegekurs belegt, die Prüfung bestanden, im Kindergarten gearbeitet, in einem Lager, bei einem Friseur. Aktuell absolviert sie eine dreijährige Ausbildung zur Arzthelferin im "Kuratorium für Dialyse und Nierentransplantation e.V." in Traunstein – also in einem Bereich, in dem hierzulande akuter Fachkräftemangel herrscht. Dank ihrer sehr guten Noten darf sie die Lehrzeit vermutlich sogar verkürzen. Der Arbeitgeber bestätigt ihr in einem Schreiben "bislang durchwegs überdurchschnittliche Leistungen" und bezeichnet sie als "wertvolle Fachkraft, um die Gesundheitsversorgung in Deutschland aufrecht zu erhalten".

Familienvater Argam Hakobyan ist zu 100 Prozent behindert, kann nicht arbeiten. Der siebenjährige Sohn Artak geht in die 2. Klasse der Grundschule Chieming. Seine Schwester Lina hat es bereits ins Annette-Kolb-Gymnasium nach Traunstein geschafft, ist in der 5. Jahrgangsstufe angekommen. "Ich habe hier schon viele Freundinnen gefunden", freut sich das stets fröhlich wirkende Mädchen, beispielsweise mit Tischtennis-Doppel-Partnerin Stephanie Deinzer.

Lina kann sich mit ihren elf Jahren überhaupt nicht vorstellen, nochmal hier wegzugehen – vielleicht weg zu müssen. Ihre Eltern versuchen, sie und ihren Bruder mindestens zweisprachig aufzuziehen: Armenisch und Deutsch hauptsächlich, klar. Dazu ein wenig Russisch. "Bairisch nicht zu vergessen, ganz wichtig", meint Heinz Felten augenzwinkernd. Kurz können alle lachen, die schwierige Situation belastet die Familie jedoch schwer: "Wir wissen nie, was morgen kommt", sagt Diana Hakobyan.

Tischtennis-Trainer Sepp Raldbrunner denkt im schlimmsten Fall an eine besondere Aktion: "Wir könnten locker 1000 Unterschriften sammeln, bei uns im Verein und den benachbarten Clubs – hier herrscht eine gewaltige Solidarität."

"Große Solidarität: Wir könnten locker 1000 Unterschriften sammeln"

Bei der mittlerweile üblichen Corona-Begrüßung – Faust auf Faust – streckt Lina Hakobyan stets den Daumen senkrecht nach oben. In der für die Familie so schwierigen, auch noch von der Pandemie getrübten Zeit ein starkes Zeichen, optimistisch zu bleiben.

Bei den TSV-Tischtennis-Cracks ist Lina eine feste Größe im Nachwuchsbereich, trainiert mit den drei bis vier Jahre Älteren. Sie gehört in ihrer Altersklasse zu den Top-Ten in Bayern. Einen ganzen Karton voller Pokale und Medaillen hat Lina mitgebracht, als die Heimatzeitung vorbeischaut.

"Sie ist ein Riesentalent", freut sich Sepp Radlbrunner, der es einst als Aktiver selbst bis in die 3. nationale Tischtennis-Liga geschafft hat. "So etwas wie sie sieht man nicht oft." Der Trainer und seine Vereinskollegen wollen diese besondere Begabung bestmöglich fördern. "Freilich, wir sind nicht der FC Bayern München, haben hier nur begrenzt Möglichkeiten. Aber wir machen alles, was möglich ist." Das heißt unter anderem: Weite Fahrten, nicht selten nach Nordbayern, die Bayerische Meisterschaft wäre Mitte Dezember in Dillingen an der Donau. "Da geht natürlich schon mal ein ganzes Wochenende drauf", so Radlbrunner, der trotz des Aufwands mit Leidenschaft und Euphorie mit seinen Jugendlichen unterwegs ist. Selbst der Bayerische Tischtennis-Verband (BTTV) hat sich gemeldet. In einem Schreiben von Verbandstrainer Manuel Hoffmann heißt es, dass "der Verbleib des Mädchens beim TSV Chieming" für den BTTV "von großem Interesse" sei. Denn nur dort hätte sie die Möglichkeit, unter A-Lizenztrainer Josef Radl-brunner systematisch und professionell zu trainieren.

Vier- bis fünfmal pro Woche kommt Lina zum Trainieren an der Platte in die Schulturnhalle, zusätzlich besucht sie seit 2019 regelmäßig Lehrgänge in Oberbayern. Jüngst durfte sie erstmals – noch außer Konkurrenz – bei den Erwachsenen starten und schlug sich im Damen-Feld der Bezirksmeisterschaft mit einem gewonnenen Satz und vielen Punkten mehr als erstaunlich.

Doch vor einem Monat kam der Schock – er flatterte den Hakobyans in Papierform ins Haus: "Die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbotes werden nach wie vor nicht als gegeben angesehen", formuliert das zuständige Bundesamt darin holprig. "Diesen Satzbau mussten wir erstmal verstehen", sagt Mama Diana. Seitdem lebt die Familie in großer Sorge, ob sie tatsächlich zurück in ihre Heimat muss. Die Verantwortlichen für Migration und Flüchtlinge vertreten die Auffassung, Argam Hakobyan könne sehr wohl adäquat in Armenien behandelt werden. Gerade in diesem Punkt widerspricht seine Frau den Behörden: "Genau das ist eben nicht so. Deshalb sind wir ja hier. In Armenien ist die Bauchfell-Dialyse aktuell nicht möglich." Ihr Arbeitgeber bestätigt schriftlich: Argam Hakobyan drohe der Tod, werde er nicht entsprechend behandelt.

Ein in Sachen "Asyl- und Ausländerrecht" spezialisierter Anwalt aus Rosenheim ist eingeschaltet. Er versucht alles, um das Bleiberecht für die Familie zu erwirken. "Wir haben momentan nicht einmal eine Aufenthaltsgenehmigung", sagt Diana Hakobyan nach über fünf Jahren in Deutschland traurig. Die Familie darf also auch nicht umziehen, in eine etwas geräumigere Wohnung, darf nicht mal für ein paar Stunden nach Österreich.

Gleichwohl sorgt die positive Grundeinstellung der Familie dafür, dass sie nicht verzweifelt: "Mein Mann wurde hier bislang optimal medizinisch versorgt", betont Diana Hakobya. "Wir sind von den Menschen hier im Chiemgau so toll aufgenommen worden." Aber natürlich nagt die Unsicherheit an ihnen, Tag für Tag. Momentan wissen die Vier nicht, wie und ob es für sie überhaupt in Deutschland weitergeht. Die Klage gegen den Bescheid aus München ist eingereicht, das Ergebnis offen.