Beängstigend real
Kommt der Krieg aus Versehen? – Ken Folletts Thriller "Never"

29.12.2021 | Stand 21.09.2023, 2:46 Uhr
Thomas Strünkelnberg

Könnte ein Weltkrieg sich entzünden, ohne dass ihn jemand will? Ken Follett malt eine düstere Gegenwart. −Foto: dpa

Er ist ein Meister darin, sich selbst neu zu erfinden. Der britische Bestsellerautor Ken Follett, seit Jahren Experte für fiktive historische Geschichten, kehrt zum Thriller zurück. Und schreibt erstmals seit 16 Jahren ein Buch, das in der Gegenwart angesiedelt ist, einer bedrückenden Gegenwart, realistisch und hart – nicht weit entfernt von unserer Realität.

Es geht um einen Konflikt zwischen Großmächten, der in einen fast unvermeidlichen Krieg zu münden droht, es geht um Atomwaffen und Zerstörung. Und um die Erkenntnis des Schriftstellers, dass schon der Erste Weltkrieg wohl nur ein "tragischer Unfall" war. Die Frage ist: Kann so etwas wieder passieren?

Genau diese Frage stellt sich Follett in seinem ganz knappen Vorwort, das den Ton von "Never – Die letzte Entscheidung" vorgibt. Darin heißt es: "Bei meinen Recherchen für "Sturz der Titanen" stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass niemand den Ersten Weltkrieg gewollt hat." Keiner der europäischen Staatenlenker habe sich einen solchen Konflikt gewünscht, trotzdem hätten sie "logische, moderate, nachvollziehbare Entscheidungen" getroffen. Jede davon habe einen kleinen Schritt näher zum "furchtbarsten Konflikt" geführt, den die Welt je erlebt habe.

Seinem Welterfolg, dem historischen Roman "Die Säulen der Erde", merkt man mehr als deutlich an, dass der Autor von Kathedralen fasziniert ist. In seinem neuen Werk, wieder immerhin fast 880 Seiten lang, geht es um seine Skepsis, seine Sorge – seinen Pessimismus. 2020 sagte er: "Das, was bislang immer als klare Regeln galt, wird mehr und mehr infrage gestellt. Und denken Sie an den Klimawandel, wo wir momentan komplett versagen und eine Menge Zeit verschwenden. Eigentlich bin ich ein Optimist. Aber momentan nicht, wenn ich an die Zukunft unseres Planeten denke."

Wie diese Zukunft aussehen könnte, beschreibt er in "Never", durchweg fiktiv, mit fiktiven Figuren und Charakteren, aber in jeder Wendung und Wirrung, in allen Verstrickungen brutal realistisch. Und realistisch brutal. Was wäre, wenn sich die Geschichte wiederholt?

In "Never" steht die Welt am Abgrund, was sich erst nach und nach zeigt. Exemplarisch macht der Autor an verschiedenen Stellen der Welt klar, was schiefläuft: Geheimdienstagenten folgen in der Sahara der Spur von Drogenschmugglern – und finden Terroristen sowie Waffen aus China und Nordkorea. Sie riskieren ihr Leben, um Terrorcamps zu zerstören. Gleichzeitig macht sich eine junge Witwe mit Hilfe von Schleusern auf den Weg nach Europa. In China kämpft ein hoher Regierungsbeamter gegen kommunistische Hardliner. Er befürchtet, dass die Kriegstreiberei seiner Widersacher das Land auf einen gefährlichen Weg führt.

Die USA haben ihre erste Präsidentin, Pauline Green, die ihre Wahl "als Gegenreaktion zu Inkompetenz und Rassismus gewonnen" hat. Nach einem Besuch im Atombunker sagt sie, dass sie versagt haben werde, wenn sie jemals in diesen Bunker zurückkehre. Sie will alles tun, um zu verhindern, dass die USA in einen unnötigen Krieg eintreten müssen. Doch was, wenn alle Diplomatie nicht mehr ausreicht, wenn ein Schritt scheinbar unausweichlich dem nächsten folgt und aus Gewalt immer wieder nur neue Gewalt erwächst?

In den 1980er Jahren war die Angst vor einem Atomkrieg allgegenwärtig. Follett erweckt die Gefühle von damals zu neuem, bedrückenden Leben. Die Sprache ist schlicht aber es ist brillant, wie er die unzähligen Handlungsfäden unbeirrbar in der Hand behält. Und doch scheint es etwas viel, gleichsam die ganze Welt in den Blick zu nehmen. Meist aber ist es atemberaubend, was der Autor an Ereignissen sich entwickeln lässt. Die Frage "Was wäre wenn?" beantwortet er eindeutig.

Thomas Strünkelnberg



Bastei Lübbe, 876 Seiten, 32 Euro