"Jeder will doch seinen Platz in der Gesellschaft"

14.09.2019 | Stand 19.09.2023, 22:17 Uhr

Die Bewährungshelferinnen Nicole Resch (l.) und Roswitha Muckenthaler müssen die Hälfte bis zwei Drittel ihrer Arbeitszeit für Organisatorisches, für Qualitätsmanagement, für Behörden-Gänge und Bürokratisches einplanen. −Foto: Pierach

Frau Resch, Frau Muckenthaler, erklären Sie Ihre Arbeit für uns Laien bitte mit einem Alltagsfall.
Resch: Wir haben ein doppeltes Mandat, Kontrolle und Hilfe, Hilfe vor allem zur Selbsthilfe. Wird zum Beispiel ein Haschischkonsument wiederholt mit einem Joint erwischt, kommt es nach erst mehreren Geldstrafen zur Freiheitsstrafe, die zur Bewährung ausgesetzt wird, sagen wir, fünf Monate Haft, für drei Jahre ausgesetzt. Zwei Jahre davon stellt der Richter dem Verurteilten einen Bewährungshelfer zur Seite, nur bei 14- bis 21-Jährigen ist das Standard. Wir bekommen das Urteil auf den Tisch und bestellen den Probanden zum Erstgespräch, mit einer Ladung.

Wer und was legt fest, wer von elf hauptamtlichen Kollegen für welchen Verurteilten zuständig ist?
Muckenthaler: Heuer sind wir, Stichtag heute, bislang für 529 Probanden zuständig. Wir haben eine Grobeinteilung nach deren Wohnort. Die gilt für Probanden aus den Landkreisen Freyung-Grafenau und Passau. Wir alle sind für die Stadt Passau und elf weitere Gemeinden des Landkreises zuständig, das verteilen wir intern, je nach Belastung, aber auch nach unseren speziellen Stärken.

Was hat es da mit dem verbreiteten Vorurteil über kriminelle Ausländer und Flüchtlinge auf sich?
Muckenthaler: Es stimmt nicht. In unserer Klientel sind Flüchtlinge und Leute mit Migrationshintergrund ein geringer Teil. Die werden nicht mehr und nicht weniger straffällig als Leute, die in Deutschland sozialisiert wurden.

Was passiert im Erstgespräch und den weiteren Treffen?
Resch: Wir versuchen, mit dem Probanden dessen Stärken herauszufinden und ihn damit zu motivieren, an sich selbst zu glauben. Wir leisten Hilfe zur Selbsthilfe. Seit 1953 gibt es die Bewährungshilfe, früher ging das alles mühsam handschriftlich, heute haben wir ein Computerprogramm mit vorgegebenen Erhebungsbögen. Dafür macht heute der Datenschutz die Bürokratie ungleich aufwändiger. Für uns gelten seit 2007 bayernweite Qualitätsstandards. Die werden laufend fortgeschrieben. In den ersten Gesprächen geht es um die Biographie und auch um Brüche im Leben.
Muckenthaler: Wir zeigen ihnen, dass sie nicht Pech gehabt haben, dass sie nicht ausgeliefert sind, dass sie selbst ihr Leben gestalten können.
Resch: Das ist ein Lernprozess. Wenn einer verstehen kann, warum er immer wieder zu Straftaten kommt…
Muckenthaler: … das kann aus Überforderung sein, auch beruflicher, schulischer. Es muss nicht immer Bildungsferne sein…
Resch: …wenn er das versteht, kann er sein Verhalten ändern. Wenn einer aus einer Suchtfamilie kommt mit einem gewalttätigen Vater, dann braucht er Alternativen zu Gewalt für die Konfliktlösung.
Muckenthaler: Das kann auch mit Rollenspielen passieren. Zum Beispiel üben wir ein Bewerbungsgespräch. Oder wir geben Hausaufgaben. Viele sind noch nie gelobt worden. Das machen wir eben schon. Wir schauen in die Zukunft. Aber mit dem Wissen um die individuelle Vergangenheit. Mit einem humanistischen, wertfreien Menschenbild.

…aber zurück zum Beispiel…
Muckenthaler: Also, der Drogenkonsument ist zwei seiner drei Bewährungsjahre einem von uns unterstellt. Er kommt in die Hauptstelle. Erst später machen wir auch Hausbesuche.
Resch: Wir haben, um es den Probanden einfacher zu machen, zudem Außenstellen in Pocking, Vilshofen, Grafenau, Freyung, Hauzenberg, Waldkirchen und Kirchham. Da steht uns in der Regel ein Raum im Rathaus zur Verfügung.
Muckenthaler: Wir erstellen eine Art Hilfeplan mit ihm, versuchen, Lösungswege aufzuzeigen. Wir besprechen Weisungen und Auflagen. Er hat die Pflicht, diese zu erfüllen und Kontakt zu halten, aber er hat auch das Recht, dass wir ihn unterstützen.

Wie sind die Leute so drauf beim Erstgespräch?
Muckenthaler: Meist eher angstbesetzt. Unsere Herausforderung ist es, den Spagat zwischen Hilfe und Kontrolle zu schaffen, indem wir die Beziehung in den Vordergrund stellen, mit ihm reden über Leben, Werdegang, Hobbys, aber auch über die Straftat, wie er dazu steht.
Resch: Wenn einer kommt, besprichst du, wie er zur Tat und zum Urteil steht. Viele sagen, sie waren es gar nicht, alles war ganz anders. Für uns ist es wichtig, auch daran mit ihm zu arbeiten. Wir erklären die Auflagen und Weisungen wie Drogenberatung, Sozialstunden, Schulabschluss Nachholen. Es ist uns wichtig, unser doppeltes Mandat klarzumachen. Einerseits bieten wir Hilfe und Kontrolle an, soweit er das zulässt. Andererseits überwachen wir die Weisungen schon auch. Da ist für uns Authentizität ganz wichtig. Je genauer der Proband weiß, wie ich ticke, umso besser läuft die Beziehungsarbeit, die ja unser A und O ist. Er muss auch wissen, dass wir grundsätzlich der Schweigepflicht unterliegen. Wenn er mir aber einen Verstoß mitteilt, Drogenkonsum, Ladendiebstahl oder so, dann müssen wir das dem Richter berichten.

Was ist die häufigste Frage der Probanden?
Muckenthaler: Wie lange dauert die Bewährung, Frau Muckenthaler, wie lange muss ich wie oft herkommen? Zunächst werden wir nur als Kontrolle empfunden. Erst später kommen ganz andere Fragen, oft sogar noch, wenn die Unterstellungszeit schon zu Ende ist. Dann fragen sie, ob sie weiter anrufen dürfen. Eventuell kann die Unterstellungszeit verlängert werden, das haben wir auch schon gemacht, vor allem bei Jugendlichen.

Lassen sich Schwerpunkte bei den Deliktsarten ausmachen?
Resch: Das sind heuer, aus der Statistik abgelesen, Eigentums-, Gewalt- und Drogen-Delikte.

Was war Ihr bislang schlimmster "Fall"?
Muckenthaler: Das war ein junger Mann aus dem Landkreis, es ging um Drogen. Ich kannte die Familie bereits beruflich. Das war alles auch zuvor schon sehr tragisch. Ich wollte helfen, es hatte sich auch wirklich wieder gut angelassen. Und dann hat es doch nicht gereicht. Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ist der junge Mann gestorben. Das war wenige Wochen nach unserem Erstgespräch. Das hat mir einen Schock versetzt. Das ist eine Riesen-Familientragödie. Wir können nicht alles regeln. So etwas zeigt uns unsere Grenzen.
Resch: Vor rund zehn Jahren war das bei mir. Ein junger Mann war psychisch erkrankt, ging in Behandlung nach Mainkofen. Wir besprachen dort mit dem Arzt, wie es weitergeht. Er hatte Job und Familie, war ein "Prackl" von einem Mann. Der Arzt sagte ihm, dass er unbedingt weiter seine Medikamente nehmen muss. Die hatten aber unangenehme Nebenwirkungen. Damit wurde er nicht fertig. Er hat sich mit einem absichtlichen Verkehrsunfall selbst getötet. Zur Beerdigung gehen, das konnte ich nicht. Wir hatten uns am Tag vorher noch gesehen. Ich hatte so gehofft, er schafft das.

Wie gehen Sie damit um? Wollten Sie schon mal hinschmeißen?
Beide: Nein, gar nicht!
Resch: Ich habe damals viel mit Kollegen gesprochen, wir haben Supervision gemacht. Wenn ein Proband sich für den Tod entscheidet, kannst du in dem Moment nichts machen.
Beide: Gespräche helfen, die Familie, Freunde helfen und lenken ab. Humor, Optimismus, raus in die Natur und Sport sind wichtig, vieles zu verarbeiten.

…und was war der tollste Erfolg?
Resch: Ich hatte eine Dame, die hat sich nach einem schwierigen Start am Ende der gemeinsamen Arbeitsjahre jetzt im Sommer ausdrücklich bei mir bedankt dafür, dass ich für sie da war. Sie war von heute auf morgen in die Freiheit entlassen worden, stand auf der Straße. Da habe ich eine Pension gefunden, das Zimmer wurde vom Jobcenter bezahlt, wir haben Anträge ausgefüllt wegen Arbeitslosengeld, den Rentenantrag. Heute geht es ihr gut. Wenn wir uns zufällig treffen, unterhalten wir uns. Das war ein schönes Begleiten.
Muckenthaler: Der liegt schon länger zurück, das war in meinen Anfangsjahren. Ein junger Passauer hatte in einer Bande Einbrüche begangen. Er kam aus einem schwierigen Milieu, das Geld reichte in der Familie hinten und vorne nicht. Der Bursche war jugendamtsbekannt. Da habe ich die Unterstellungszeit verlängert, weil er zwei Lehren nicht geschafft hatte. Einmal lag es am Verständnis in der Berufsschule. Er stand da ohne Abschluss. Da waren große Defizite. Ich habe mit dem Jugendamt geregelt, dass er Nachhilfe bekam, und einen Ort zum Lernen. Das war daheim unmöglich. So kann niemand lernen. Er hat alles mitgemacht, hat alles angenommen. Der Schulleiter lobte ihn als guten Jungen. Dann telefonierte er in der Schule mit dem Handy, flog wieder raus. Er hat den Hauptschulabschluss aber geschafft. Er sagte mir, er mag Beschichter lernen. Das ist eine abgespeckte Malerlehre. Wir fanden eine Lehrstelle. Darüber erzählte er mir gleich staunend: Der Chef, der mag mich. Er schaffte den Abschluss, ich habe seither nichts mehr von ihm gehört. Ich bin so froh, dass er die vielen Hürden geschafft hat.

Ich höre bei Ihnen beiden sehr viel Menschenliebe heraus. Was hat Sie in diesen Beruf gebracht?
Muckenthaler: Ich war gelernte Krankenschwester, arbeitete auch in der Kurzzeitpflege. Da bekam ich tiefe Einblicke in familiäre Notlagen, materielle und seelische. Die Menschen suchten das Gespräch mit mir, aber dafür war selten genug Zeit. Ab 1997 bildete ich mich berufsbegleitend drei Jahre lang weiter zur Lehrerin für Pflegeberufe. Danach klärte ich, dass das mit meiner Familie vereinbar ist, und hängte ab 2001 ein Vollzeitstudium dran für Soziale Arbeit an der FH Regensburg. Mein erstes Studienpraktikum war gleich 2001 bei der Bewährungshilfe in Passau, zwei Praxissemester in Regensburg folgten. Danach war ich mir sicher, Straffälligen helfen zu wollen. Jeder will doch seinen Platz in der Gesellschaft haben. Aber die Mittel, den zu behaupten, sind ungleich verteilt. Diese Mittel zu erlernen, das üben wir mit ihnen ein. 2006 habe ich als diplomierte Sozialpädagogin hier in Passau angefangen. Ich setze mich ein gegen Diskriminierung und Stigmatisierung, das sind große Übel in unserer Gesellschaft. Die Gesellschaft muss zulassen, dass unsere Leute auch wieder aus der Schublade rauskommen. Wir wollen ihnen die Kraft dafür geben…
Resch: … und die Scham nehmen. Viele stecken den Kopf in den Sand. Wir ermutigen sie. Ich habe an der FH in Landshut Sozialpädagogik studiert. Im Praktikum war ich in einer Reha-Klinik und kümmerte mich um die Angehörigen von Schlaganfall- und Schädel-Hirn-Trauma-Patienten. Das hat mich unglaublich berührt, wie schnell jemand aus dem Leben gerissen werden kann, man in Situationen rutscht, die man selber nicht steuern kann. Nach dem Studium war ich zunächst im Gesundheitsamt, in der Suchtberatung. Ich finde, in unserer Gesellschaft wird der Mensch zu stark bewertet, in gut oder schlecht. Für mich sind alle Menschen gleich und jeder ist einzigartig. Zum Beispiel alkoholkranke Männer, denen läuft dann die Frau davon, sie vereinsamen, der Mensch hat eigentlich keine Chance mehr. Ich konnte nach drei Jahren ganz zur Bewährungshilfe wechseln. Ich sehe den Menschen wertfrei. Jeder hat immer die Chance, wieder neu anzufangen. Was passiert ist, ist passiert. Ich will jedem das Gefühl geben, er ist trotz einer Straftat etwas wert. Unsere Klientel wird zu schnell abgestempelt, ihnen wird nicht mehr zugehört. Das ist mir so wichtig, jedem das Gefühl zu geben, dass ich ihn nicht in eine Schublade gesteckt habe. Nach fünf vergeigten Therapien soll er halt die sechste beginne, irgendwann schafft er das.

…denken Sie gerade an wen bestimmten?
Muckenthaler: Ja, an eine brave Frau Anfang 50, die noch nie gearbeitet hatte außer die Familie, ihre Kinder, den Mann zu versorgen. Sie hat aus Finanznot etwas für ihren Mann besorgt, das der für die Arbeit dringend brauchte. Sie wusste, dass sie das nicht bezahlen kann. Sie bekam eine Bewährungsstrafe wegen Betrugs und Sozialstunden als Altenbetreuerin. Die rief mich jeden Tag an, schwärmte, dass sie gelobt würde, dass alle sie so mögen würden. Sie war auch daheim die Kümmerin, aber da bekam sie nie Anerkennung. Auf meinen Rat hat das Paar sich eine kleinere Wohnung gesucht, so hatten sie mehr Geld und die erwachsenen Kinder konnten nicht mehr zurück ins Hotel Mama. Jetzt arbeitet sie im Verkauf. Und sie ist glücklich.

Raten Sie Studierenden zu Ihrem Beruf?
Muckenthaler: Unbedingt. Wir beide halten Vorträge für Studenten und Rechtsreferendare. Ich leite in unserem Team die Studierenden an, wenn sie im Rahmen ihres FH-Studiums der Sozialen Arbeit ein Praxissemester absolvieren. Die Bewerbungen, auf die wir übrigens heuer noch warten, sind an die Präsidentin des Landgerichts zu richten. Als Bachelor steigt man bei uns in den gehobenen Dienst ein. Nach wenigen Berufsjahren kann man ins gehobene Beamtenverhältnis übernommen werden.
Das Gespräch führte Christine Pierach.