"Ich möchte mein altes Leben zurück"

25.09.2021 | Stand 20.09.2023, 5:24 Uhr

Kämpft seit 18 Monaten mit den Folgen einer Corona-Infektion: Die 24-jährige Amelie Kessler. Neben Freund und Familie ist Dackeldame Ida für sie der große Trostspender. −Foto: privat

Frau Kessler, 18 Monate sind eine lange Zeit – hätten Sie sich Anfang April vergangenen Jahres vorstellen können, dass Ihnen Covid-19 dermaßen zusetzt?


Kessler:
Nein, auf gar keinen Fall. Ich dachte anfangs, das wird bald wieder, wie bei den anderen auch. Ich bin ja jung und kerngesund, war immer sehr sportlich, ging zwei- bis dreimal in der Woche ins Fitnessstudio und war auch sonst viel in der Natur unterwegs.

Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Corona haben?
Es war in der Nacht auf den 1. April 2020. Ich hatte einen langen Arbeitstag und auch noch die Nachtschicht hinter mir. Als ich heimkam, fühlte ich mich sehr schlapp. Ich war richtig fertig, bekam plötzlich Reizhusten und Fieber.

Haben Sie gleich auf Covid-19 getippt?
Na ja, in unseren Berufen – ich arbeite in einem Wohnheim der Lebenshilfe – kann man nicht immer ausreichend Abstand halten. Man muss ja den Bewohnern beispielsweise beim Waschen helfen. Und auch wenn ich sehr vorsichtig war, hatte ich schon die Befürchtung, dass mich die Krankheit treffen könnte.Wir haben damals ja nicht mal eine Maske gehabt. Wie sollten wir uns schützen?

Das heißt, Sie haben sich bei der Arbeit angesteckt?
Ja, das war definitiv so. Wir hatten mehrere Fälle im Haus, sowohl bei Kollegen als auch bei Bewohnern. Aber das war ja in vielen Heimen so.

Wie ging es dann weiter?
Ich war eine der ersten mit Verdacht auf Covid und bin in das komplette Strukturchaos reingeraten. Keiner wollte mich testen, alle hatten Angst. Die erschütternden Bilder aus Bergamo gingen damals um die Welt. Letztendlich bin ich in der Fieberambulanz im Klinikum Passau gelandet. Am 4. Tag hatte ich Gewissheit: Das Ergebnis war leider positiv.

Das war sicherlich erst mal ein Schock...
Ja, vor allem ging es nun darum, wen ich möglicherweise angesteckt hatte. In meiner Familie hatte ich sicherheitshalber wegen meiner Arbeit schon auf großen Abstand geachtet. Glücklicherweise hatte sich niemand infiziert. Aber meinen Freund hat es dann erwischt. Wie hätte es anders sein können, bei einem 1-Zimmer-Appartement? Er hat es aber recht gut weggesteckt und ist bald gesund geworden.

Das heißt, Sie waren wenigstens nicht allein in Quarantäne?
Ja, das war ein Trost. Mit Essen versorgt wurden wir von meiner Mama und der Oma, die uns die Sachen vor die Tür stellten. Die Eltern meines Freundes brachten Osternestchen an den Eingang. Schlimm nur, bei mir hat die Quarantäne fast acht Wochen gedauert. Das war nicht ohne. Mein Freund hat mir dann am 23. April zwei Hasen geschenkt, damit ich tagsüber nicht so alleine bin.

"Ich wurde behandelt wie eine Aussätzige"

Wie ging es gesundheitlich weiter?
Leider wurde es nicht besser, im Gegenteil. Ich hatte starke Fieberschübe,ständig Kopfweh, als würde es mir den Schädel zerreißen. Kopfweh kannte ich vorher überhaupt nicht. Schlimm war, dass ich mich auf gar nichts konzentrieren konnte. Hinzu kam die Kurzatmigkeit, ich bekam keine Luft, der ganze Brustkorb eine einzige Enge, als würde ein schwerer Mann draufliegen. Mehr als 30 Meter, also bis zur Hauseinfahrt, schaffte ich nicht zu Fuß. Dann musste ich mich wieder hinlegen. Ich bin nur mehr zwischen Couch und Bett hin- und hergependelt. Dann noch die Schmerzen in den Armen und Beinen, so als hätte ich Verbrennungen, das Kribbeln in den Fingern sowie Blutdruck- und Pulsentgleisungen.

Wie wurde Ihnen geholfen?
Die Hausärztin war immer für mich da und ist es heute noch. Dafür bin ich sehr dankbar. Damals in der Anfangsphase habe ich leider nicht mal ein CT gekriegt, wie gesagt, alle hatten Angst vor mir. Ich wurde behandelt wie eine Aussätzige, so als hätte ich die Pest.

Aber Sie hätten doch ins Krankenhaus gehen können?
Da war ich einen Tag, weil ich eine leichte Lungenentzündung bekommen hatte. Weil ich aber nicht beatmungspflichtig war, wurde ich am selben Tag wieder entlassen. Und da ich mittlerweile negativ getestet worden war, hieß es: "In 14 Tagen gehst du bestimmt wieder in die Arbeit".

Hört sich nach Genesung an...
Ja, aber ich habe es gesundheitlich wie körperlich leider nicht geschafft. Der ständige Husten, die Kurzatmigkeit, die Erschöpfungszustände... Es ist nicht ohne, wenn du mit Menschen mit Beeinträchtigung arbeitest. Da braucht man schon auch Kraft. Es ging einfach nicht und deshalb wurde mir im August 2020 eine Reha verordnet.

Der Lichtblick?
Ja, das dachten wir alle. Doch damals glaubte man, dass das Virus nur die Lunge schädige. Und so wurde bis dahin lediglich mein Husten behandelt. Ich bekam auch Codein, mit der Folge, dass ich fast den ganzen Tag geschlafen habe. Die Reha in Berchtesgaden hat leider nicht den erhofften Erfolg gebracht. Also kam ich nach drei Wochen wieder nach Hause.



Wie sah Plan B aus?
Ich habe angefangen, mir sämtliche Therapien selbst zusammenzusuchen. Eigentlich könnte man für die ganze Krankengeschichte locker eine Bürokraft beschäftigen, soviel Aufwand ist das alles. Ich ging zur medizinischen Trainingstherapie, zur Ergotherapie, zur Atemphysiotherapie und zum Neuropsychologen.

Wie hat Sie die Berufsgenossenschaft unterstützt, da Sie sich doch in der Arbeit infiziert hatten?
Ich musste im Dezember zur Heilverfahrenskontrolle und wurde zum dortigen BG-Arzt nach Halle geschickt. Man wollte endlich den Ursachen für die vielen Begleiterscheinungen meiner Krankheit auf die Schliche kommen. Leider konnte man mir auch dort nicht helfen, mein Gesundheitszustand hat sich kein bisschen verbessert. Die nächste Kontrolle war dann im April diesen Jahres und daraufhin ging es für mich Ende Mai für einen Monat zur teilstationären Behandlung nach Leipzig. Da ich mich nicht mehr konzentrieren konnte, mein Reaktionstest so schlecht war, wurde mir schließlich empfohlen, dass ich nicht mehr Auto fahren sollte. Denn wenn etwas passieren würde, wäre ich nicht mehr versichert, hieß es. Parallel dazu sollte jedoch die Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess stattfinden. Da fragte ich natürlich schon, wie ich 20 Minuten Fahrweg zur Arbeit ohne Auto meistern sollte?

Eine berechtigte Frage...
Die Antwort lautete: Mit dem Taxi. Am 5. Juli hatte ich meinen ersten Arbeitstag. Ich sollte jeden Tag zwei Stunden arbeiten, alle 14 Tage um eine Stunde länger.

Wie war es, plötzlich nach so langer Zeit die Kollegen und Bewohner wieder zu sehen?
Das war eine große Freude, denn ich liebe ja meinen Job, er ist das, was ich immer machen wollte. Aber die Freude währte nicht lange. Ich war völlig erschöpft, hatte furchtbare Kopfschmerzen und Wortfindungsstörungen. Es hat mich richtig angestrengt, obwohl anfangs eh nur zwei, drei Bewohner da waren. Zu Hause angekommen, bin ich nur mehr gelegen. Aber ich machte weiter. "Da musst Du Dich jetzt durchbeißen", sagte ich zu mir selbst. "Du wirst doch mit 24 Jahren noch zwei Stunden am Stück arbeiten können." Als ich dann in der dritten Woche drei Stunden hätte arbeiten sollen, musste ich kapitulieren.

Wie haben Sie die Enttäuschung verkraftet, dass sich das Arbeitspensum nicht wie gewünscht steigern ließ?
Es war schwer. Aber was hätte ich tun sollen? Ich bin zu meiner Hausärztin und dann sind wir zurückgerudert. Ich sollte künftig nur mehr zweimal in der Woche zwei Stunden arbeiten. Das war am 20. Juli.

Und wie ging es mit dem Führerschein weiter?
Am 30. Juli hatte ich einen Termin beim Neuropsychologen. Ich musste sodann die praktische Fahrprüfung noch einmal ablegen, also Autobahnfahrt etc., alles außer einparken. Da ich sehr umsichtig fahre, wurde mir attestiert, dass ich wieder ans Steuer kann. Wenigstens das. Und so konnte ich ab dem 2. August wieder selbst zur Arbeit fahren.

Wiedereingliederung in den Beruf abgebrochen

Von da an ging es aufwärts, könnte man meinen.
Leider nein, denn die Arbeit war zu anstrengend. Ich war anschließend total ausgelaugt. Und so hat der Arbeitgeber befunden, dass es für die Wiedereingliederung noch zu früh ist. Das fand ich sehr ehrlich. Am 7. September hat die Hausärztin die Wiedereingliederung abgebrochen.

Wie gehen Sie mit dem neuerlichen Rückschlag um?
Manchmal wünsche ich mir, dass ich etwas Grätziges hätte, damit jeder weiß, der mich ansieht, dass ich krank bin. So aber sieht man mir nichts an. Das ist wirklich ein Problem für mich. Keiner weiß, wie es sich anfühlt, wenn man nicht atmen kann, keiner spürt meinen hohen Puls, das Brennen in den Beinen, das Kribbeln in den Händen. Und vor allem kann kein Gesunder das Fatigue-Syndrom nachvollziehen.

Wie geht es finanziell weiter, wenn die Wiedereingliederung gestoppt wurde?
Auch diese Sorge treibt mich um. Anfang Oktober läuft das Verletztengeld aus, denn nach eineinhalb Jahren müsste man ja eigentlich gesund sein, heißt es. Ich brauche jetzt dringend ein Gutachten, damit ich das Verletztengeld zumindest befristet weiter bekomme oder eine Unfallrente oder Arbeitslosengeld I.

Was entgegnen Sie Coronaleugnern?
Ich selbst zähle ja zu den Genesenen, obwohl ich es nach wie vor nicht bin. Und natürlich habe mich sofort impfen lassen, als das möglich war. Allen Coronaleugnern kann ich nur wünschen, dass Sie meine Krankheitsgeschichte nicht eines Tages durchmachen müssen.

Wie schafft man es, nicht zu verzweifeln in dieser misslichen Lage, in die Sie ja völlig unverschuldet geraten sind?
Ich bin unendlich dankbar, dass mein Freund und meine Familie zu mir stehen. Diese tolle Unterstützung gibt mir Hoffnung. Mittlerweile bin ich auch einmal im Monat in einer Selbsthilfegruppe, online natürlich. Die tut mir gut und zeigt, dass ich mit meinem Schicksal nicht alleine bin.

Wenn Sie sich was wünschen dürften?
Ich habe eigentlich nur einen einzigen Wunsch: Ich möchte mein altes Leben zurück.

Interview: Elke Fischer