PNP-Interview
"Hungersnot verhindern": Nouripour fordert Gespräche mit Taliban

13.10.2021 | Stand 21.09.2023, 2:05 Uhr

−Foto: Bernd von Jutrczenka/dpa

Aus humanitären Gründen seien dringend Gespräche mit den Taliban geboten, fordert Grünen-Außenpolitiker Omid Nouripour.

"Wenn wir eine riesige Hungersnot im Winter verhindern und noch versuchen wollen, weitere Leute aus dem Land zu holen, müssen wir mit ihnen reden", sagte Nouripour der PNP. "Allerdings ohne den Taliban das Gefühl zu geben, als seien sie legitimiert und anerkannt", denn sie hätten das Land überrollt und rund 38 Millionen Menschen als Geisel genommen. Er erinnerte daran, dass das letzte Mal vor über 20 Jahren, als die Taliban das Land regiert haben, über eine Million Menschen verhungert seien. Auch jetzt seien die Ernten ausgefallen, die Wirtschaft zusammengebrochen, die Lieferketten zerstört. "Jetzt eine Hungersnot zu verhindern, ist oberstes Gebot, unabhängig davon, wer das Land regiert."

Das Interview im Wortlaut:

Die USA haben mit den Taliban gesprochen, die Europäer tun es auch. Haben sich die Taliban international als Gesprächspartner qualifiziert?
Omid Nouripour: Mit den Taliban zu sprechen, hat nichts mit Qualifikation zu tun, sondern ist eine Notwendigkeit. Sie haben das Land überrollt und rund 38 Millionen Menschen als Geisel genommen. Wenn wir eine riesige Hungersnot im Winter verhindern und noch versuchen wollen, weitere Leute aus dem Land zu holen, müssen wir mit ihnen reden.

Kann man da nur über humanitäre Dinge reden, oder muss man auch über Politisches reden, wie Menschenrechte?
Nouripour: Das muss man sogar – allerdings ohne den Taliban das Gefühl zu geben, als seien sie legitimiert und anerkannt. Das darf nicht passieren. Wir können die Taliban nicht als legitime Herrscher des Landes anerkennen. Es muss derzeit in erster Linie um das Verhindern einer Hungersnot gehen. Man muss wissen, die Ernten sind ausgefallen, die Wirtschaft ist zusammengebrochen, die Lieferketten zerstört. Das letzte Mal vor über 20 Jahren, als die Taliban das Land regiert haben, sind über eine Million Menschen verhungert. Damals haben sie gesagt, das sei Gottes Wille. Jetzt eine Hungersnot zu verhindern, ist oberstes Gebot, unabhängig davon, wer das Land regiert.

Auch die G20 beschäftigen sich bei einer Sonderkonferenz mit dem Thema. Man will auch verhindern, dass das Land wieder zum Hort des Terrorismus wird. Besteht diese Gefahr?
Nouripour: In der Tat. Weil derzeit andere Themen im Vordergrund stehen, ist in Afghanistan ein Vakuum entstanden, das rasch gefüllt wird von Terror-Organisationen. Al Qaida ist wieder zurück, ihre Strukturen wachsen wieder. Auch IS ist mit Anschlägen sehr aktiv. Die Bedrohung ist gewaltig. Damit müssen sich die G20 beschäftigen. Vor allem sollten sich die Mitgliedsländer aber erst einmal einigen, Hilfsgelder nicht direkt den Taliban zu überweisen, sondern die Vereinten Nationen in die Lage zu versetzen, den Menschen zu helfen. Die UN-Mission in Afghanistan ist stark unterfinanziert und braucht Geld.

Der G20 gehören auch Länder wie Russland, China und Saudi-Arabien an. Ist da eine gemeinsame Linie denkbar?
Nouripour: Ich denke schon. Zum einen sollte humanitäre Hilfe nicht politisch aufgeladen werden. Daher kann man hoffen, dass auch die genannten Länder nicht wollen, dass dort Millionen von Menschen verhungern. Zum anderen sind auch diese Staaten selbst massiv betroffen von Terrorismus. Sie können kein Interesse daran haben, dass Al Qaida und IS in Afghanistan breitere Strukturen aufbauen. Daher sollten sich die G20 darum bemühen, auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners handeln zu können – nämlich über die UN humanitär zu helfen und zu verhindern, dass Afghanistan wieder zur Drehscheibe des Terrors wird. Man darf aber nicht den Avancen Russlands nachgeben, die Taliban als legitime Vertreter des Landes zu behandeln.

Ist die Taliban-Herrschaft über das ganze Land inzwischen gefestigt?
Nouripour: Nein, das ist sie nicht. Der Widerstand wächst, aber es ist unklar, welche Größe er annimmt. Zudem haben sie bisher nicht einmal alle Regionen erobern können.

Heute gibt es einen Abschiedsappell und einen großen Zapfenstreich zum Ende der Afghanistan Mission. Ist das ein Signal für die noch fällige Aufarbeitung des Themas?
Nouripour: Ja. Es ist dringend notwendig, dass wir wissenschaftlich unabhängig aufarbeiten, was beim Afghanistaneinsatz falsch gelaufen ist, um daraus Lehren für die Zukunft zu ziehen. Hinzu kommt eine Aufarbeitung der Fehler bei der Evakuierung. Das muss die neue Bundesregierung leisten.