Grafenau
Hawedehre – "S’Scherzl oba ghört mir!"

22.04.2022 | Stand 19.09.2023, 21:46 Uhr


Wer das "Scherzl" bekommt, das ist nicht festgelegt. Entweder derjenige, der das Brot anschneidet, oder es wird gerecht durchgewechselt, mal der, mal der, oder es kommt einfach nur darauf an, wer der schnellste ist. Eines aber ist sicher, "scharf" auf das "Scherzl", auf den knusprigen Anschnitt des Brotlaibes oder Weckens ist fast jeder, vor allem dann, wenn das Brot frisch ist und seinen herzhaften Duft ausströmt. Und man liegt nicht verkehrt, wenn man behauptet, dass das "A’scherzl", der erste Anschnitt also, viel begehrter ist als das Schluss-Scherzl, wenn der Brotlaib allmählich zu Ende geht, weil das Brot dann schon einige Tage alt ist und manchmal sogar umständlich aufgeweicht werden muss, um es noch einigermaßen genießen zu können.
Auf die Suche nach der sprachlichen Herkunft des "Scherzl" haben sich schon etliche Mundartexperten gemacht, nicht immer mit übereinstimmenden Ergebnissen. Ludwig Zehetner stimmt der Annahme, das "Scherzl" hätte eine Verwandtschaft zu dem lateinischen "cortex, -icis oder dem italienischen "scorza" (deutsch: Rinde, Baumrinde) eher nicht zu. Er vertraut dafür den althochdeutschen Begriffen "skeran" und "skerzan". Ludwig Merkle entdeckt im Mittelhochdeutschen den Begriff "scherze", der nichts anderes als "abgeschnittenes Stück" bedeutet. Auch das "scherten" (=abschneiden) lässt die Verwandtschaft zum "Scherzl" erkennen, woraus sich relativ leicht Verknüpfungen zu "Schere" und "Scharte" herstellen lassen.
In Norddeutschland ist das "Scherzl" der "Kanten", im Mittel- und Süddeutschen Raum hat sich zum "Scherzl" das "Ranftl" oder "Ranftei" in manchen Gegenden bis heute erhalten.
Das "Scherzl" Brot wurde wegen seiner Haltbarkeit gerne bei Heischeumgängen an die armen Leute, die Bettler, die kinderreichen Familien, verschenkt, wenn sie vor Allerseelen zum Beispiel oder in den Rauhnächten, von Haus zu Haus zogen, ihre Bettellieder anstimmten und um milde Gaben baten. Auch die "Leichenbitterin", die durch die Dörfer zog, von Hof zu Hof ging und zu den Beerdigungen einlud, wurde u. a. mit "Brotscherzln" für ihr undankbares Amt entlohnt.

J.A. Schmeller, unser Urvater der Mundartforschung, ergänzt seine Erklärung zum "Scherzl" mit einem Zusatz, der auf einen mancherorts bis heute geübten Brauch beim Brotanschneiden hinweist. Er schreibt: "S’erst Scherzl von am Loab, wo ma net s’Kreuz drüber macht, kimmt oam net z’Nutzen". Womit er nichts anderes sagen will, als dass man vor dem Anschneiden eines frischen Brotes mit dem Daumen oder der Messerspitze ein oder sogar drei Kreuze über den Rücken des Brotes andeutet und dazu die Gebetsformel spricht: "Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes!" Damit will man Dankbarkeit für das tägliche Brot ausdrücken und darauf vertrauen, dass es nie ausgehen möge. Und dann war es tatsächlich so, sollte man die Kreuzzeichen einmal vergessen haben, dass das Brot bei Weitem nicht mehr so gut schmeckte und dass bis zum letzten "Scherzl" immer ein schlechtes Gewissen mitschwang.
Das Brot spielt im täglichen Leben eine besondere Rolle, schon immer, und ich wünsche dem Leser, dass er oft die Gelegenheit bekommt, ein "Scherzl" oder "A’scherzl" ohne oder mit Aufstrich genießen zu können.
Karl-Heinz Reimeier