PNP-Interview
Grünen-Gründungsmitglied Beckmann: "Historisches Ereignis"

11.01.2020 | Stand 20.09.2023, 23:01 Uhr

Die Grünen Gründungsmitglieder (r-l), Lukas Beckmann und Milan Horacek sowie DDR Bürgerrechtler Werner Schulz. −Foto: dpa

Lukas Beckmann, Gründungsmitglied der Grünen und erster Bundesgeschäftsführer der Partei, beschreibt den Gründungsparteitag als ein "besonderes, ein historisches Ereignis". "Dennoch war der Verlauf des Gründungsparteitags so, dass wir im ersten Anlauf auch hätten scheitern können", sagte Beckmann der PNP. Das Gründungsmotto "Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt" sei heute noch angebrachter als vor 40 Jahren. "An der Bedeutung dieser Mahnung hat sich gar nichts geändert. Sie hat sich verschärft", sagte das Partei-Urgestein. 1983 zogen die Grünen erstmals in den Bundestag ein. "Der Erfolg lag einfach in der Luft", erinnert sich Beckmann. Es habe eine starke Umwelt-, Anti-Atomkraft-, Frauen- und vor allen Dingen auch Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre gegeben. "Ein neuer Zeitgeist war zu spüren", beschreibt der frühere Parteisprecher die Stimmung.

"Sind Teil der deutschen und europäischen Geschichte"

Die frühere "bunte Zusammenstellung" der Grünen sei "eine große Herausforderung" gewesen – "aber sie war auch notwendig", sagte Beckmann. Man habe sich breiter aufstellen wollen, was gelungen sei. "Die Grünen sind heute keine eingefrorene Partei, sondern sehr lebendig und entwicklungsfähig." Die Grünen seien heute allerdings nicht mehr wie früher. "Wir haben uns sehr verändert und sind uns gerade dadurch treu geblieben. Unser größter Erfolg besteht zunächst darin, dass wir die ökologische Frage als Überlebensfrage in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt haben und daraus unsere zentralen politischen Aufgaben ableiten", erklärte Beckmann. "Nach 40 Jahren haben wir nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern sind Teil der deutschen und europäischen."

"Neues Führungsduo ist Glücksfall für die Partei"

Vor allem Joschka Fischer hätte auf die Entwicklungsgeschichte der Grünen einen großen Einfluss gehabt. "Aber wir hatten in der Vergangenheit nie einen Mangel an fähigen Führungspersönlichkeiten wie zum Beispiel Marianne Birthler, Cem Özdemir oder Jürgen Trittin", sagte Beckmann. Zu lange hätte ein "wirkliches Kraftzentrum" gefehlt, das als Team ausstrahlt und auf gesellschaftlichen Dialog setzt. "Mit den neuen Bundesvorsitzenden ist uns das erstmals gelungen. Das bringt uns nach vorne. Das neue Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck ist wirklich ein Glücksfall für die Partei."

Das Interview im Wortlaut:

Herr Beckmann, die Grünen feiern ihr 40jähriges Bestehen. Am 12. und 13. Januar fand in Karlsruhe der Gründungsparteitag statt. Wie erinnern Sie sich daran?
Beckmann: Das war ein besonderes, ein historisches Ereignis. Wir hatten vorher einen Testlauf mit der Europawahl gemacht und überraschenderweise auf Anhieb 3,2 Prozent bekommen. Das war das Signal, dass es weitergehen kann. Mit der Wahlkampfkostenerstattung konnten wir die grüne Partei aufbauen. Damit war klar, dass die ökologische Frage dauerhaft auch die politisch- parlamentarische Bühne betritt. Dennoch war der Verlauf des Gründungsparteitags so, dass wir im ersten Anlauf auch hätten scheitern können.

In der Berichterstattung hieß es, die Versammlung sei chaotisch verlaufen. Das Medienecho war verheerend…
Beckmann: Ja, das war so. Dennoch: Am Ende gelang die Gründung und war insofern ein Erfolg. Wir haben uns damals in Baden-Württemberg getroffen, um dort unsere Kandidaten für die Landtagswahl im März zu unterstützen. Unser Gründungsparteitag war aber leider keine Hilfe und Unterstützung - dafür verlief sie zu chaotisch. In den Landtag wurden die Grünen jedoch trotzdem gewählt.

Das Gründungsmotto lautete damals, "Wir haben die Erde nur von unseren Kindern geborgt". Das ist vierzig Jahre später immer noch aktuell…
Beckmann: An der Bedeutung dieser Mahnung hat sich gar nichts geändert. Sie hat verschärft. Wir sind heute leider nicht so weit, dass wir die zentralen Herausforderungen befriedigend beantworten können. Wir brauchen nicht nur eine neue Regierung in Berlin, sondern ebenso eine Erweiterung in den Methoden politischer Öffentlichkeit und Urteilsbildung. Von den Bürgerräten in Irland zur Unterstützung von Parteien und Parlamenten können wir viel lernen.

1983 sind die Grünen erstmals in den Bundestag eingezogen. Ein damals überraschender Erfolg?
Beckmann: Wir hatten 5,6 Prozent. Da war nicht viel Spielraum. Aber der Erfolg lag einfach in der Luft. Es gab eine starke Umwelt-, Anti-Atomkraft- Frauen und vor allen Dingen auch Friedensbewegung zu Beginn der achtziger Jahre. Ein neuer Zeitgeist war zu spüren. Zu unseren Kultur-Wahlveranstaltungen der "Grünen Raupe" - unsere Wahlkampagne in den größten Hallen der Republik - kamen bis zu 12.000 Menschen und zahlten dafür 15 DM Eintritt. Diese gesellschaftliche Stimmung hat uns in den Bundestag getragen.

Die Grünen galten damals als Anti-Partei-Partei - die erste Protestpartei?
Beckmann: Natürlich haben wir uns gegen die Politik der anderen Parteien konstituiert und für einen neuen gesellschaftsökologischen Ansatz – insofern auch Protestpartei. Aber wer eine Partei gründet wechselt im Kern den Hauptmodus von Anti auf Pro. Wir wollten nun auch das Parlament nutzen, dort für unsere Ziele einstehen und zu kämpfen.

Schon damals warnten die Grünen, wirtschaftliche Ressourcen seien begrenzt. Es müsse ein gesellschaftliches Umdenken geben. Das passt auch heute noch ins Programm, oder?
Beckmann: In unserem Programm haben wir die Proteste der gesellschaftlichen Bewegungen, die ja eine tiefer liegende Wirklichkeit ausdrückten, in positive Handlungsziele weiterentwickelt. Es gab den Bericht des Club of Rome über die Endlichkeit der Ressourcen und die Grenzen des Wachstums. Wir hatten seit vielen Jahren Atomkraftwerke und damals, aber ja bis heute keine Antwort auf die Frage, wohin mit dem atomaren Müll. Wie verantworten wir das gegenüber künftigen Generationen. Wir wollten eine neue Energiepolitik, eine neue Agrarpolitik, eine ökologische Kreislaufwirtschaft, Gleichberechtigung von Frauen, mehr direkte Beteiligungsmöglichkeiten von Bürgerinnen – Ziele, wo wir viel erreicht haben und die uns weiterhin begleiten.

Strickende Frauen und bärtige Männer, Müsli-Esser und Ökospinner, so das Bild dieses bunten Haufens damals. Heute regiert die Partei in einigen Ländern, schielt auch im Bund wieder nach der Macht. Gehören die Grünen nicht längst zum Establishment?
Beckmann: Diese bunte Zusammensetzung war von Anfang an eine große Herausforderung, aber sie war auch notwendig. Wir wollten uns breiter aufstellen, wollten Neues in die Welt bringen. "Einheit in der Vielfalt" war das Motto, zu dem der Bildhauer Joseph Beuys aufgerufen hatte. Die Vielfalt als Ort der Freiheit und des Kennenlernens, die Einheit als Ort der Gemeinsamkeit. Die Grünen sind heute keine eingefrorene Partei, sondern sehr lebendig und entwicklungsfähig. Wir könnten gelegentlich im ursächlichen Sinne realistisch radikaler sein. Es hat uns selten daran gemangelt, sprachlich radikal zu sein. Dadurch haben wir teilweise unsere Anschlussfähigkeit an die Gesellschaft verloren. Aber die Zukunft entscheidet sich nun mal im Handeln, das geistig vorgeformt wird und Menschen überzeugen muss.

Lange war Joschka Fischer der Übervater und der heimliche Vorsitzende der Partei. Wie hat er die Grünen geprägt?
Beckmann: Joschka Fischer hatte auf die Entwicklungsgeschichte der Grünen einen sehr großen Einfluss. Aber wir hatten in der Vergangenheit nie einen Mangel an fähigen Führungspersönlichkeiten wie zum Beispiel – Marianne Birthler, Cem Özdemir oder Jürgen Trittin. Was uns zu lange fehlte war ein wirkliches Kraftzentrum, das als Team ausstrahlt und auf gesellschaftlichen Dialog setzt, sich in die Gesellschaft hinein öffnet und dabei nicht mehr durch innerparteiliche Strömungskämpfe geschwächt wird. Mit den neuen Bundesvorsitzenden ist uns das erstmals gelungen. Das bringt uns nach vorne. Das neue Führungsduo Annalena Baerbock und Robert Habeck ist wirklich ein Glücksfall für die Partei.

Wie haben die Grünen sich selbst und das Land in 40 Jahren verändert?
Beckmann: Wir haben uns sehr verändert und sind uns gerade dadurch treu geblieben. Unser größter Erfolg besteht zunächst darin, dass wir die ökologische Frage als Überlebensfrage in das Zentrum des öffentlichen Bewusstseins gerückt haben und daraus unsere zentralen politischen Aufgaben ableiten. Das ist der Kern. Wenn man sich die Bilder aus dem Bundestag von vor 40 Jahren anschaut und sieht, wie wir heute als Gesellschaft über die Bedrohung unseres Lebens und unserer Zivilisation sprechen, über die Integration von Ökologie und Wirtschaft, über Sexualität, gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften, die Rolle der Frau, der Abschaffung der Wehrpflicht etc. dann bekommt man eine Ahnung davon, auf wie viele Veränderungen die Grünen ganz zentralen Einfluss genommen haben.

Sind die Zeiten der Flügelkämpfe, der Realos und Fundis endgültig vorbei?
Beckmann: Gott sei Dank. Wir hatten über viele Jahre zwei Gefrierzentren, die Kreativität gebremst und Offenheit nach außen verunmöglicht haben zu Lasten unserer eigentlichen Aufgaben, für die wir angetreten sind. Das haben wir überwunden und erzeugt eine neue Energie, Dynamik und Ausstrahlungskraft.

Ausgerechnet 1990 im Jahr der Deutschen Einheit gab es für die Grünen ein Wahldebakel, zogen sie nicht wieder in den Bundestag ein. Nur die ostdeutschen Grünen von Bündnis 90 gelang der Sprung ins Parlament. Wie haben Sie diese Zäsur erlebt?
Beckmann: Diese Zäsur war wichtig für unser Überleben. Wir waren erkrankt, hatten uns von der Wirklichkeit weit entfernt, hatten zu wenig Empathie für die grundlegenden Veränderungen in Deutschland und Europa. Es war nachvollziehbar, warum uns viele Wählerinnen und Wähler damals nicht gefolgt sind. Diese Niederlage war selbst verschuldet. Die Fusion mit Bündnis90 war dann ein wichtiger Schritt für beide Seiten. Wir haben Erfahrungen mit Menschen geteilt, die in einer Diktatur gelebt und Repressalien erlitten haben. Die wussten, was es bedeutet, wenn man seine Meinung nicht frei sagen darf. Vielen von ihnen waren reifer und erwachsener als wir.

1998 die Wende, das Ende der Ära Kohl. Die Grünen seien zwar Teil der rot-grünen Bundesregierung gewesen, aber nicht an der Macht, so die Kommentatoren. Waren ihre Partei Kellner und Gerhard Schröder und die SPD Koch wie der Altkanzler das Verhältnis beschrieben hatte?
Beckmann: Wir hatten Erfolge, auch wenn wir nicht im Kanzleramt saßen. Die wesentlichen Entscheidungen und Veränderungen im Bereich der Energiepolitik, der Landwirtschaftspolitikwären ohne die Grünen undenkbar gewesen.

Auf dem Parteitag in Bielefeld 1999 stimmten die Grünen dem Kosovo-Einsatz zu. Welche Bedeutung hatte die Entscheidung für die Entwicklung der Grünen?
Beckmann: Die Ursachen für den Krieg im Kosovo waren vielfältig, unmittelbar voran ging ja der Krieg in Bosnien mit über 200.000 Toten – eine Flugstunde von uns entfernt, das Aufflammen neuer Nationalismen und Europa blieb sprachlos und war politisch nicht handlungsfähig. Und auch wir fanden als ein tragender Teil der Friedensbewegung in den 80ern keine Sprache, keine Position. Das war sehr belastend und ein irritierender Einstieg in die Zeit nach dem Einsturz der Mauer, dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit seiner Satellitenstaaten in Mittel- und Osteuropa.

Aktuell liegen die Grünen in den Umfragen bei über 20 Prozent auf Platz Zwei hinter der Union. Sind sie auf dem Weg zur Volkspartei?
Beckmann: Nach 40 Jahren haben wir nicht nur unsere eigene Geschichte, sondern sind Teil der deutschen und europäischen. Das heutige Potenzial haben wir schon länger. Nach vier Jahrzehnten ist dieser Drive für zentrale Zukunftsfragen und Antworten für mich nicht überraschend. Ich bedaure, dass wir es nicht früher geschafft haben, unser Potential in der Gesellschaft besser nutzen. Der erste Wahlerfolg in einem Flächenstaat zur Landtagswahl in Baden-Württemberg liegt jetzt 40 Jahre zurück. Es war ja nicht einfach nur ein Zeitgeist, der uns nicht immer getragen hat. Wir standen uns auch immer wieder selbst im Weg.

Ist es Zeit für einen grünen Kanzlerkandidaten?
Beckmann: Wir wollen auch im Bund regieren – keine Frage. Alle anderen Fragen beantworten wir dann später.