PNP-Spendenaktion
Genitalverstümmelungen in Gambia: "Gibt keine Entschuldigung mehr"

03.12.2019 | Stand 21.09.2023, 3:48 Uhr

Sozialarbeiterin Kaddy (39) wurde als Kind von ihrer eigenen Großtante beschnitten. Ihrer kleinen Tochter Nyma wird dieses Schicksal erspart bleiben - weil es seit Kurzem ein Gesetz in Gambia verbietet und weil es ihre Mutter nie zulassen würde: "Das tue ich meinem Mädchen nicht an." −Fotos: Hedemann

Drei von vier Frauen im Alter zwischen 15 und 49 Jahren haben in Gambia weibliche Genitalverstümmelung noch am eigenen Leib erfahren müssen. Die Regierung des afrikanischen Landes hat der grausamen Praxis ein Ende gesetzt - mit Unterstützung von SOS-Kinderdörfer.

Es ist fünf Uhr morgens, als die kleine Kaddy geweckt und aus ihrem Dorf im Süden Gambias in einen Wald geführt wird. Nach einer Weile kommt sie an einen großen Baum. Darunter sitzen vier Frauen. In einer erkennt die Siebenjährige ihre Großtante Mariama. Die alte Frau ist eine berühmte Beschneiderin, die schon ungezählten Mädchen die Klitoris abgeschnitten hat. Kaddy wird ihr nächstes Opfer. Mittlerweile hat "SOS-Kinderdörfer weltweit" der brutalen Tradition den Kampf angesagt. Kaddy und ihre Großtante spielen dabei eine wichtige Rolle.

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"Meine Großtante breitete ein Tuch auf dem Boden aus. Die Frauen spreizten mir die Beine. Sie hielten mir die Arme und die Beine fest. Dann schnitt meine Großtante mir mit einer Rasierklinge die Klitoris ab. Es tat wahnsinnig weh. Ich habe mein eigenes Blut gesehen und geschrien", erinnert Kaddy sich an jenen Morgen vor mehr als 30 Jahren.

Kaddy ist nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation WHO eine von weltweit rund 200 Millionen heute lebenden Frauen, die Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung wurden. Vor allem in 30 afrikanischen, asiatischen und arabischen Ländern wird die brutale Praxis nach wie vor praktiziert. Nach UN-Angaben waren im überwiegend muslimischen Gambia noch 2015 rund 75 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 Jahren beschnitten, in manchen ländlichen Gebieten waren es sogar über 95 Prozent. Meist berufen die Beschneiderinnen sich auf den Koran, dabei fordert keine einzige Sure der heiligen Schrift des Islams die Verstümmelung der weiblichen Genitalien.

Nachdem ihre eigene Großtante Kaddy beschnitten hatte, setzte die alte Frau das Mädchen auf einen Topf mit heißem Wasser. Anschließend bestrich sie die Wunde zwischen den Beinen mit einer zähen Tinktur, die sie aus den Blättern des Neem-Baumes gewonnen hatte. Die traditionelle Medizin sollte die Schmerzen lindern und die Blutung stillen. Tatsächlich führt sie nicht selten zu gefährlichen Infektionen und schmerzhaften Entzündungen.

Lange traute sich niemand, Tradition in Frage zu stellen

Doch Kaddy hatte Glück. Ihre Wunde entzündete sich nicht. Nach ein paar Tagen ließen die Schmerzen nach, und Kaddy sprach fast 20 Jahre nicht darüber, was ihre Großtante ihr unter dem großen Baum angetan hatte. Sie schwieg. So wie alle anderen. Kaddy kannte niemanden, der offen über das eigentlich Unaussprechliche sprach. Die alte Tradition in Frage zu stellen, wäre einem Verrat an der eigenen Kultur, am eigenen Glauben, an der eigenen Familie und damit einem Verrat an allem, was in Gambia wichtig ist, gleichgekommen.

Und doch gibt es auch in Gambia Frauenrechtlerinnen, Ärzte und Hebammen, die genau das tun. Kaddy traf sie erstmals, als sie als 23-Jährige als Freiwillige in einem Krankenhaus arbeitete. Die Männer und Frauen erzählten ihr, dass die Beschneidungsnarben vielen Frauen während der Menstruation, beim Urinieren, beim Sex und bei der Geburt höllische Schmerzen bereiten, dass weltweit jedes Jahr Tausende Mädchen beim Eingriff verbluten oder Jahre später bei der Geburt an den Folgen sterben. Da die meisten Beschneiderinnen über keinerlei medizinische Ausbildung verfügen, kaum Ahnung von weiblicher Anatomie und Hygiene haben und zudem oft dasselbe Messer oder dieselbe Rasierklinge verwenden, besteht zudem die große Gefahr, dass sie auf diese Weise HIV, Hepatitis und andere Krankheiten übertragen.

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Kaddys Großtante will diese Einwände nicht gelten lassen. "Ich war eine berühmte Beschneiderin. Keines der Mädchen, das ich beschnitten habe, ist gestorben oder krank geworden. Die Leute hatten großen Respekt vor mir. Sie kamen von weit her, um ihre Töchter von mir beschneiden zu lassen. Sogar aus dem Senegal. Teilweise waren sie tagelang zu Fuß unterwegs. Ich habe gut verdient", sagt Mariama vor ihrer Hütte in einem Dorf im Süden Gambias, das nur über eine holprige Piste zu erreichen ist. Wenn sie von ihrer Zeit als Beschneiderin erzählt, glänzen die Augen der zierlichen Frau mit den langen schlanken Fingern. Sie sagt, dass sie 95 Jahre alt sei und nicht wisse, wie vielen Mädchen sie die Klitoris abgeschnitten habe, aber Tausende dürften es wohl gewesen sein.

Vor fünf Jahren gab sie ihren Beruf nach über 50 Jahren auf. Unfreiwillig! Kurz bevor ein neues Gesetz 2015 die weibliche Genitalverstümmelung in Gambia verbot, wurde die alte Beschneiderin in ihrem Dorf von einer ehemaligen Beschneiderin besucht. Sie kam in Begleitung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern von "SOS-Kinderdörfer weltweit". Gemeinsam erklärten sie Mariama, die nie lesen und schreiben gelernt hatte, welche verheerenden gesundheitlichen und psychischen Folgen eine Beschneidung haben kann und dass nirgendwo im Koran stehe, dass Mädchen beschnitten werden müssten.

Die alte Frau zu überzeugen, dass das, was sie mehr als die Hälfte ihres langen Lebens gemacht hatte, plötzlich falsch sein solle, war nicht einfach. Schon ihre Mutter und Großmutter waren Beschneiderinnen gewesen, hatten den lange hoch geachteten, wenn auch meist im Verborgenen betriebenen Beruf an sie weitergegeben. "Ich habe das, was ich getan habe, nie hinterfragt. Ich habe es getan, weil wir es immer getan haben. Wir haben die Mädchen beschnitten, um ihre Lust zu kontrollieren. Unbeschnittene Frauen sind unrein und ihrem Mann oft nicht treu. Darum ist es immer noch schwer, eine unbeschnittene Tochter zu verheiraten", sagt die ehemalige Beschneiderin überzeugt.

"Was ich getan habe, hat getan werden müssen"

Dass sie mit den Eingriffen, die unter äußerst unhygienischen Verhältnissen und ohne Narkose stattfanden, nicht nur ihrer eigenen Großnichte, sondern sehr vielen Mädchen sehr wehgetan hat, leugnet die alte Frau nicht. "Ja, klar tut es den Mädchen weh, wenn man ihnen etwas abschneidet", sagt die alte Frau und schmunzelt. "Aber wenn man sich in den Finger schneidet, tut es ja auch weh", schiebt sie dann verharmlosend hinterher. Zwar hätten die schreienden Mädchen ihr zunächst leidgetan, aber sie habe sich bald daran gewöhnt. Schlaflose Nächte oder ein schlechtes Gewissen haben die Schreie der Mädchen ihr jedenfalls nicht gemacht. "Ich wusste ja, dass das, was ich tat, getan werden musste", sagt die alte Frau, während ihre Großnichte Kaddy zuhört.

Als ihre Großtante sie vor gut 30 Jahren verstümmelte, spürte Kaddy neben höllischen Schmerzen auch eine ungeheure Wut auf Mariama, der sie bis dahin blind vertraut hatte. Heute hat Kaddy ihr vergeben. "Ich klage niemanden an. Was meine Großtante getan hat, hat sie in der Überzeugung getan, das Richtige zu tun. Sie wusste es einfach nicht besser", sagt die 39-Jährige, die heute als Sozialarbeiterin für "SOS-Kinderdörfer" arbeitet.

"Heute würde ich die Polizei rufen"

Um ihr eine alternative Einkommensquelle zu schaffen und so zu verhindern, dass Mariama aus materieller Not in ihren alten Beruf zurückkehrt, stattete die Kinderhilfsorganisation die ehemalige Beschneiderin mit einem Startkapital aus. Seitdem arbeitet sie als Salzverkäuferin auf dem Markt. Die Geschäfte laufen gut, sagt Mariama. Allerdings macht sie auch keinen Hehl daraus, dass sie nicht aus Überzeugung, sondern aus Zwang ihren alten Beruf aufgegeben hat und dass sie das Gesetz, das die Abgeordneten sich in der fernen Hauptstadt Banjul ausgedacht haben, für einen Fehler hält.

"Jede Generation hat ihre eigenen Regeln. Das akzeptiere ich. Aber würden sie das neue Gesetz zurückziehen, würde ich morgen wieder anfangen. Ich weiß noch genau, wie es geht. Ich bereue nichts", sagt die alte Frau. Doch sie weiß auch, dass das Anti-Beschneidungsgesetz nicht kassiert werden wird und dass sie im Gefängnis landen könnte, wenn sie sich über das jetzt geltende Recht hinwegsetzen würde. Dafür würde ihre Großnichte sorgen. Denn eins ist für Kaddy klar: "Würde sie wieder zur Rasierklinge greifen, würde ich die Polizei rufen. Es gibt jetzt keine Entschuldigung mehr. Sie weiß, dass es jetzt verboten ist."