Studenten besetzen Uni in Budapest
"Es ist wie Krieg": Prof. László Bagossy informiert per Zoom am 28. Oktober

Seit 50 Tagen besetzen Studenten die Theateruni in Budapest – Was fürchten sie?

21.10.2020 | Stand 19.09.2023, 6:06 Uhr

"Wir sind frei, wir sind Künstler. Die Atmosphäre unserer Universität irritiert diese Leute", sagt László Bagossy, Leiter des Theaterinstituts der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest. Die Studentinnen und Studenten demonstrieren seit über einem Monat für die Autonomie der Hochschule. −dpa

Nicht irgendwo weit weg, sondern in nächster Nachbarschaft in Europa arbeiten demokratisch gewählte Regierungen daran, die Strukturen und Regeln der Demokratie abzubauen und durch die ihren zu ersetzen.

Anstelle eines Wettstreits der Ideen will die Regierung in Ungarn eine homogene Gesellschaft formen, die sich vor allem an Nation und Christentum orientiert.

"Viktor Orbán ist wie ein Computer-Hacker", sagt László Bagossy (53), Regisseur, Universitätsprofessor und seit 2017 Leiter des Theaterinstituts der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest (SZFE). "Er nutzt die Schwachstellen des Systems."

Nicht irgendwo weit weg, sondern in nächster Nachbarschaft in Europa arbeiten demokratisch gewählte Regierungen daran, die Strukturen und Regeln der Demokratie abzubauen und durch die ihren zu ersetzen. Anstelle eines Wettstreits der Ideen will die Regierung in Ungarn eine homogene Gesellschaft formen, die sich vor allem an Nation und Christentum orientiert. "Viktor Orbán ist wie ein Computer-Hacker", sagt László Bagossy (53), Regisseur, Universitätsprofessor und seit 2017 Leiter des Theaterinstituts der Universität für Theater- und Filmkunst in Budapest (SZFE). "Er nutzt die Schwachstellen des Systems." Im September hat er die Hochschule einer Stiftung untergeordnet, die Leitung ausgewechselt und gegen regierungsfreundliches Personal eingetauscht. Seit 50 Tagen schon besetzen Studentinnen und Studenten aus Protest die Universität. Es sei ein "Kulturkampf", sagt Bagossy im Telefongespräch mit der Passauer Neuen Presse. "Es ist wie Krieg."

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Gespräch mit dem Leiter am 28. Oktober 2020

Über die Lage in Ungarn berichten Prof. László Bagossy und Student Jakob J. Ladanyi am Mittwoch, 28. Oktober, um 19 Uhr in einem Gespräch der Festspiele Europäische Wochen Passau. Es findet online und gratis über den Anbieter Zoom statt. Es ist keine Anmeldung, kein Download und keine eigene Software nötig dafür Mit einem Klick kann jedermann teilnehmen.

Zum Zoom-Treffen gelangen Sie hier

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Was zunächst wie eine unwichtige Verwaltungsfrage klingt, ist in den Augen des Institutsleiters de facto eine Gefahr "für die Freiheit der Wissenschaft und die Freiheit der Kunst". Denn Attila Vidnyánsky, der Stiftungsvorsitzende und Freund Orbáns, möchte an der Uni "linksliberale Tendenzen bekämpfen". Dort seien "christlicher Glaube und nationalkonservative Werte schmerzlich vermisst worden". Bagossy hört dergleichen mit Grausen: "Früher wollte man den homo sowjeticus erschaffen, heute den homo christianus."

Wie an der Theateruniversität beschneide die Orbán-Regierung allerorten im Kulturleben Freiheit und Eigenständigkeit, sagt Carsten Gerhard, Intendant der Festspiele Europäische Wochen Passau, die 1952 gegründet wurden, um Frieden und Freiheit auf dem Kontinent zu pflegen. "Dass sich die Europäischen Wochen für europäische Freiheitswerte einsetzen, ist ihnen in die DNA geschrieben", sagt der Intendant. "Und hier sehe ich sie tatsächlich bedroht. Die Situation ist akut, und darum wollen wir diese Stimmen hörbar machen." Das öffentliche Gespräch, das die Festspiele deshalb organisieren (siehe Kasten), moderieren Übersetzerin Agnes Relle und Journalist Stephan Oszváth, der sich intensiv mit Ungarn auseinandersetzt.

"Alle Autonomierechte unserer Universität wurden neu geschrieben, die meisten Entscheidungsrechte des Senats abgeschafft", sagt László Bagossy. "Sie sagen, es geht um einen Modellwechsel, um Geld und mehr Flexibilität für uns. Aber ich glaube, das ist ein Trick, um die Kontrolle über die Universität zu übernehmen." Der Leiter ist überzeugt, dass es darum geht, Zugriff auf die Hochschulgelder der EU und auf die Berufung von Professoren zu bekommen. Und es geht um Geist: "Im Kuratorium der Stiftung sind Orbans Leute. Wir sind frei, wir sind Künstler. Die Atmosphäre unserer Universität irritiert diese Leute. Orban führt einen national-christlichen Kulturkampf, er will einen neuen Menschentyp bauen. Es ist tragikomisch."

Von der Europäischen Union sieht sich der Hochschullehrer enttäuscht: "Ich weiß nicht, warum es keinen Willen gibt, europäische Werte zu schützen. Wenn jemand innerhalb der EU eine Diktatur aufbauen kann, dann sind die Regeln der EU nicht gut genug. Das ist nicht nur eine Frage der Sensibilität des ungarischen Volkes für die Demokratie. Das ist eine Frage der Sensibilität des europäischen Volkes. Wenn man Ungarn in der EU nur als Peripherie betrachtet, hat die ganze EU keinen Sinn."

Ziel der Besetzung sei es, die Garantie der Autonomie zurückzuerhalten. "Es ist wie Krieg, Sie wissen nie, ob morgen der nächste Angriff kommt. Wir schlafen wenig, wir sind müde, aber wir kämpfen natürlich weiter." Dem Beispiel der Zentraleuropäischen Universität Budapest folgen und etwa nach Wien fliehen will Bagossy nicht. "Aber wenn unser Kampf scheitert, brauchen wir Unterstützung." Davor wollen die Theater- und Filmleute am Freitag demonstrieren. Es ist Nationalfeiertag. Tag der Revolution von 1956.

Raimund Meisenberger