Passau
"Es braucht eine Art Trauerjahr" - 140 Seelsorger nach Flut im Einsatz

<F>Notfallseelsorger</F> Dieter Schwibach hat während der Flutkatastrophe vielen Opfern Beistand geleistet und ihre Verzweiflung hautnah miterlebt. Mit seinen Kollegen sorgt er dafür, dass Betroffene auch in den kommenden Monaten noch Ansprechpartner finden.

28.08.2013 | Stand 19.09.2023, 5:29 Uhr

Während der Flut wurde vieles, was dem Einzelnen wichtig war, zerstört.
Wie hier in der Passauer Altstadt sahen sich die Flutopfer den Trümmern
ihrer Existenz gegenüber. In den ersten Tagen waren es neben der
konkreten Hilfe beim Schlammschippen vor allem Gespräche, die über den
ersten Schock hinweghalfen. Selbst betroffen war Dieter Schwibach,
Beauftragter der Diözese Passau für die Notfallseelsorge, von der
Flutkatastrophe nicht. Doch auch das hautnahe Miterleben der
Verzweiflung habe ihn selbst verändert. Fotos: Jäger

Dieter Schwibach kratzt sich am Kinn. Er muss nicht lange überlegen. Eine vergleichbare Situation hat er in seinen zwölf Jahren als Beauftragter der Diözese Passau für die Notfallseelsorge noch nicht erlebt. Nicht annähernd. Schon allein eine bloße Zahl verdeutlicht das Ausmaß der Ereignisse: Insgesamt 140 Notfallseelsorger seien während der Hochwasserkatastrophe in den Regionen Passau und Deggendorf im Einsatz gewesen. Seelischer Beistand im Akkord.

 Schwibach, 53, tiefe ruhige Stimme, von stattlicher Statur, wirft so leicht nichts aus der Bahn. Das während der Flutkatastrophe Erlebte hat aber selbst er gut zweieinhalb Monate nach der Flut noch nicht ganz verdaut. Normalerweise arbeitet der Diplom-Theologe als Pastoralreferent in Pfarrkirchen. Als "Chef" der diözesanen Notfallseelsorge stand er während der Katastrophe stets in engem Kontakt mit dem Krisenstab oder war bei den Besprechungen sogar dabei.

Viele drohten aus Hilflosigkeit mit Suizid Die Verzweiflung, der Schwibach und seine Kollegen begegneten, war vielerorts groß. In den Tagen nach der Flut habe es viele Suizid-Androhungen gegeben. "Das waren verzweifelte Aufschreie aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus", erklärt Schwibach. In die Tat umgesetzt habe das geäußerte Vorhaben gottlob niemand. Allerdings habe man jeden einzelnen Fall ernst genommen und den Menschen beigestanden – "so lange, bis das soziale Netz wieder tragfähig war", sagt Schwibach. Dann habe man die weitere seelische Aufbauarbeit wieder Familie, Freunden und Bekannten der Betroffenen überlassen. Dass generell niemand durch die Katastrophe zu Tode gekommen ist, grenzt für ihn an ein Wunder.

 Derlei "Akuteinsätze" waren allerdings eher die Ausnahme: "Wir waren wie Streetworker unterwegs", beschreibt Schwibach den Ablauf für die Seelsorger während der 19 Tage des Katastrophenzustands in Passau. Wie Straßensozialarbeiter, die sich in der Regel um Jugendliche in Brennpunktvierteln kümmern, seien er und seine Kollegen einfach vor Ort gewesen. Als Ansprechpartner, um den Betroffenen die Möglichkeit zu geben, über das Erlebte zu reden. Geholfen habe dabei oft ein einfaches Mitbringsel: "Wir hatten Energy-Drinks in Dosen dabei", erklärt Schwibach. Diese seien der "Türöffner" gewesen. Die Menschen hätten dafür mitten in den Aufräumarbeiten für einen Moment innegehalten. Dankbar für das kraftspendende Getränk – und verständnisvolle Zuhörer. "Darüber zu reden hilft den Menschen, die Dinge selbst einordnen zu können", erklärt Schwibach.

 Das gilt auch für die Seelsorge-Kräfte selbst – an jedem Abend habe es eine gemeinsame Reflexionsrunde gegeben. Indem sie sich ihre Begegnungen und Erlebnisse mit den Flutopfern untereinander schilderten, sammelten auch sie neue Kraft. Und Schwibach als Koordinator konnte dem Krisenstab ein Stimmungsbild direkt von den Betroffenen liefern. "Dieser Austausch von oben nach unten und andersherum hat gut funktioniert", resümiert der Diplom-Theologe. In dieser Form sei das in den vergangenen zehn Jahren neu organisierte Krisenmanagement zum ersten Mal zum Einsatz gekommen. Und habe sich bewährt.

 Ein wiederkehrendes Schema hat der 53-Jährige über die knapp drei Wochen des Katastrophenzustands ausgemacht: "Für die Menschen gibt es eine Zweiteilung: die Zeit vor der Flut und die Zeit nach der Flut." Vieles, was dem Einzelnen wichtig gewesen sei, sei zerstört worden. "Die Menschen haben ihre Existenz sterben sehen", verdeutlicht Schwibach. "Mit ihren Häusern haben viele Heimat verbunden." Für viele habe so zwangsläufig der Weg in ein neues Leben begonnen.

 Und dieser Weg sei ein längst noch nicht abgeschlossener Prozess, weiß Schwibach. "Das ist noch nicht vorbei", warnt er. Als nichts weniger als ein "kollektives Trauma" bezeichnet Schwibach das, was in den Regionen Passau und Deggendorf in jenen schicksalhaften Tagen im Juni erlebt hätten. Deshalb müsse man den Menschen trotz der langsamen Rückkehr zum Alltag weiter Zeit zugestehen, die Dinge einzuordnen und zu verarbeiten – zumal nach wie vor viele mit Renovierungsarbeiten voll ausgelastet seien und bisher kaum Zeit zur Reflexion gehabt hätten.

 "Es braucht eine Art Trauerjahr", meint Schwibach daher – ähnlich, wie nach dem Tod eines Angehörigen. Dazu gehört für ihn ein weiterhin großes Angebot an niedrigschwelligen, sprich: für jedermann einfach zugänglichen, psychotherapeutischen Hilfen. Von Flut-Gottesdiensten bis hin zu professionellen Gesprächsangeboten. Das gelte nicht nur für die Betroffenen: "Auch die fleißigen Helfer darf man nicht allein lassen", sagt er. Denn der erfahrene Notfall-Seelsorger glaubt, dass Seine Lehre: Heimat an Menschen festmachennicht jeder die gesehene Not einfach so von heute auf morgen verarbeitet. So plädiert er etwa auch für dauerhafte Gesprächsangebote für die Studenten – sowohl während der Semesterferien als auch im neuen Semester.

 Einiges sei auch bereits in die Wege geleitet worden. "Wir haben mit den Deggendorfern eine Aktionsgemeinschaft gegründet", berichtet Schwibach. Mit dem Malteser Hilfsdienst als treibende Kraft hätten sich die Notfallseelsorge der Diözesen Passau und Regensburg, die Caritas sowie die Kliniken in Deggendorf zusammengetan, um für die Flutopfer vor Ort weiterhin greifbar zu sein. "Wir sind mit einem Bus jede Woche in Fischerdorf und Natternberg, um die Menschen weiter zu begleiten", beschreibt er.

 Auch Dieter Schwibach selbst – obwohl persönlich als Pfarrkirchner nicht betroffen – versucht, seine Konsequenzen aus der Flutkatastrophe zu ziehen. Für sich versuche er künftig, sein Heimatgefühl weniger mit materiellen Dingen wie Haus oder Garten zu verbinden, sondern mehr mit seiner Familie, dem Freundeskreis oder Hobbys wie Sport, erklärt der Vater zweier erwachsener Kinder. Denn wie dieses Gefühl von Heimat und Sicherheit für Tausende Menschen quasi über Nacht ins Wanken geraten kann, hat er als Seelsorger im Katastrophengebiet hautnah miterlebt. Schwibach: "Das verändert einen auch selbst."