Pocking
Ein Mann mit Down-Syndrom wird 80

19.08.2017 | Stand 20.09.2023, 6:51 Uhr

Wolfgang Sternagelverbringt seinen Lebensabend im Pockinger Caritas-Wohnheim für Erwachsene mit Behinderung. Ihn umsorgen (v.l.) Pfleger Christian Wawra, Bereichsleiterin Maria Albrecht, Pflegerin Gerlinde Mitterer und Vormund Dr. Brar Piening. Morgen kann der Mann mit Down-Syndrom seinen 80. Geburtstag feiern. − Foto: Georg Gerleigner

Alljährlich im Februar ist Kenny Cridge den britischen Medien eine Schlagzeile wert. Dann steht er im Rampenlicht – vom Boulevardblatt "The Sun" bis zur seriösen BBC berichten alle über den inzwischen 77-Jährigen aus der englischen Grafschaft Somerset. So erfährt man, dass Kenny Cridge gerne Harmonika spielt, mit Vorliebe Süßigkeiten isst – und weiterhin der älteste lebende Mensch der Welt mit Down-Syndrom ist. So steht’s Jahr für Jahr im Guinness-Buch der Rekorde – seit 2008.

Auch Wolfgang Sternagel aus Pocking (Lkr. Passau) mag gerne Musik und Süßes. Auch er hat das Down-Syndrom. Und: Er feiert am morgigen Sonntag Geburtstag – es ist sein 80. Muss Rekordhalter Kenny Cridge jetzt etwa um seinen Titel zittern? Heißt es stattdessen: ein Wolfgang im Guinness-Buch? Mitnichten. Fernab des britischen Blitzlichtgewitters schert man sich im Pockinger Caritas-Wohnheim für Erwachsene mit Behinderung nicht um solche Rekorde. "Wir freuen uns einfach, dass wir am Sonntag mit ihm seinen Runden feiern können", sagt sein gesetzlicher Betreuer, Dr. Brar Piening.

Der Pockinger Augenarzt pflegt zu seinem Schützling eine innige Beziehung. Die beiden kennen sich schon seit vielen Jahren, 2008 hat der heute 73-Jährige die gesetzliche Betreuung für Wolfgang Sternagel übernommen. Auch wenn der Alterungsprozess gnadenlos eingesetzt hat, Sternagel inzwischen bettlägerig und auf einen Pflegerollstuhl angewiesen ist – seinen Betreuer erkennt er noch immer. Brar Piening läuft durch den Flur im Erdgeschoss des Caritas-Heims. An jeder Tür ein Foto des jeweiligen Bewohners. Hinten rechts betritt er leise Wolfgang Sternagels Zimmer. Er lässt sich auf den Knien auf einer der beiden dicken blauen Matten nieder, die neben dem Bett liegen. Hinter dem Bett hängt ein Kreuz. Fotos sind an den Wänden befestigt. Ein kleiner Stoffbär baumelt am Aufrichter. Wolfgang liegt dösend im Bett. Es ist so niedrig, damit er nicht tief fallen kann. Piening streichelt Wolfgang Sternagel sacht über die leicht verkrüppelte Hand. "Wolfgang, ich bin’s", sagt er mit sanfter Stimme. Keine Regung, Wolfgang starrt vor sich hin. Dann schluckt er, fokussiert Piening, seine Mundwinkel gehen nach oben – er lächelt. "Dieses verschmitzte Lächeln hat er oft im Gesicht, wenn ich reinkomme", sagt Piening, strahlt selbst und tätschelt Wolfgang Sternagel die Hand: "Schlaf noch ein bisschen, wir sehen uns später." Der 79-Jährige schließt die Augen.

Beim Down-Syndrom ist aufgrund einer Genommutation das gesamte 21. Chromosom oder Teile davon dreifach vorhanden, eine weitere Bezeichnung lautet daher Trisomie 21. Betroffene sind in der Regel mehr oder weniger in ihren kognitiven Fähigkeiten beeinträchtigt. Inzwischen steigt auch – analog zur Gesamtgesellschaft – die durchschnittliche Lebenserwartung von Menschen mit Down-Syndrom: Lag sie in Wolfgang Sternagels Kindheit, den 1940er Jahren, noch bei rund zwölf Jahren, so werden Menschen mit Trisomie 21 heute im Durchschnitt 60 Jahre alt.

Insgesamt sei Wolfgang Sternagel ein "Stehaufmännchen". Lungenentzündung und Grippevirus hat er heuer schon überstanden, Krankenhausaufenthalte hat er hinter sich. "Jetzt geht’s ihm wieder besser", sagt Brar Piening. Pünktlich zu seinem 80. Geburtstag. Ein bisschen Rampenlicht darf’s dieses Mal schon sein – auch ohne Eintrag ins Guinness-Buch.

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