PNP-Interview
DRK-Präsidentin Hasselfeldt: "Derartiges Spendenaufkommen in so kurzer Zeit hatten wir noch nie"

21.03.2022 | Stand 20.09.2023, 1:31 Uhr |

Im Ukraine-Krieg sind Verbände wie das DRK immens gefordert, sagt dessen Präsidentin Gerda Hasselfeldt. −Foto: Kain

Gerda Hasselfeldt, die Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK), dankt für Hilfsbereitschaft der Bevölkerung in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg und die große Spendenbereitschaft.

Mit dem Überfall der russischen Armee auf die Ukraine gibt es zum ersten Mal seit dem 2. Weltkrieg wieder einen großen Krieg in Europa. Sie waren lange in der Politik - Ministerin in Bonn, Vize-Bundestagspräsidentin in Berlin. Haben Sie sich jemals gedacht, dass es wieder so schlimm kommen könnte?
Gerda Hasselfeldt: Ich hätte mir das niemals vorstellen können. Das ist die größte humanitäre Krise in Europa seit dem Ende des 2. Weltkrieges. Die Bilder sind unbeschreiblich, sie bewegen und erschrecken zutiefst – und sie führen zu einer beeindruckenden Hilfsbereitschaft der Menschen.

Sie sind nun seit vier Jahren Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Vermutlich haben Sie derzeit immens viel zu tun, oder?
Hasselfeldt: Nicht nur ich. Der gesamte Verband ist enorm gefordert, im Inland wie auch im Ausland. Wir sind als DRK eingebettet in das weltweite Netzwerk der Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. In diesem helfen wir unserer Schwestergesellschaft direkt in der Ukraine, aber auch in den Nachbarländern wie Polen und der Republik Moldau, wohin unzählige Menschen in den vergangenen drei Wochen geflüchtet sind. Es geht darum, essenzielle Hilfsgüter dorthin zu bringen, wo sie nach dem konkreten Bedarf gebraucht werden. Weiterhin unterstützen wir speziell das Ukrainische Rote Kreuz mit seinen rund 6.000 freiwilligen Helfern bei seinen landesweiten Aktivitäten: Sie bilden unentwegt Menschen in Erster Hilfe aus, zum Teil in den Luftschutzbunkern und in den U-Bahn-Stationen in Kiew. Sie evakuieren Menschen und versorgen sie medizinisch. An den Grenzübergängen richten die Teams des Roten Kreuzes sichere Plätze für Mütter und Kinder ein und versorgen die Menschen mit Wasser, Lebensmitteln und Hygieneartikeln.

Und im Inland?
Hasselfeldt: Hier geht es akut in erster Linie um den Aufbau von Unterbringungskapazitäten - von Berlin über die deutschen Großstädte bis in die einzelnen Landkreise. Allein in Bayern haben wir innerhalb weniger Tage 120 Notunterkünfte für 16.000 Personen errichtet. Es geht aber auch um den Ausbau unserer Beratungskapazitäten und Migrationsarbeit im Allgemeinen.

In Berlin scheint man besonders gefordert zu sein…
Hasselfeldt: Wir sind, teilweise zusammen mit anderen Hilfsorganisationen, dabei, am früheren Flughafen Berlin-Tegel sowie auf dem Messegelände große Unterbringungskapazitäten aufzubauen: Schlafstellen, Verpflegung, Sanitätsversorgung, Sanitäres, psychosoziale Beratung, Anlaufstellen für alle Anliegen – das Feld ist enorm. Auch am Hauptbahnhof sind wir tätig, wo täglich bis zu 10.000 Flüchtlinge ankommen. Und das, was gebraucht wird, ist anders als 2015 und 2016 – weil es diesmal vor allem Frauen und Kinder sind, die zu uns fliehen, Menschen mit Behinderung, ältere Menschen, Gebrechliche und Kranke.

Was bedeutet das?
Hasselfeldt: Wir müssen sehr viel mehr als vor sieben Jahren Platz in speziellen Einrichtungen schaffen, etwa in Heimen und Krankenhäusern. Da stellen sich zum Beispiel Fragen wie: Sind Standards wie Personalschlüssel zu halten? Brauchen wir zur Unterstützung noch mehr Ehrenamtliche und/oder Hilfskräfte?

Finden Sie bei der Bundesregierung ein offenes Ohr?
Hasselfeldt: Ja. Ich war eben erst mit Vertretern anderer Wohlfahrtsverbände bei Bundeskanzler Olaf Scholz. Wichtig ist, dass wir unbürokratisch Hilfe leisten können. Es gibt zum Beispiel offene Finanzierungsfragen in der Pflege. Außerdem ist die Materialvorhaltung noch mangelhaft.

Inwiefern?
Hasselfeldt: Wir bauen gerade innerhalb weniger Tage am ehemaligen Flughafen Tegel ein Modul für die Unterbringung und Betreuung von mindestens 1.000 Flüchtlingen auf. Das dafür notwendige Material reicht von den Zelten über die Abwasserentsorgung, Wasseraufbereitung und die Stromversorgung bis hin zur Beleuchtung und allradtauglichen Fahrzeugen. Darüber verfügen wir aber erst seit kurzem. Es war ein großer Kampf der Hilfsorganisationen, die diese Module betreiben sollen, es überhaupt finanziert zu bekommen. Wir brauchen aber mindestens zehn derartiger Logistikzentren deutschlandweit. Hier haben wir deutlich Luft nach oben. Bei der Materialvorhaltung muss der Bund mehr tun. Der Bund darf nicht nur an den militärischen Schutz denken, er muss auch den Zivilschutz im Blick haben. Wenn wir dieses erste Modul nicht bekommen hätten, dann hätten wir im vergangenen Jahr bei der Flutkatastrophe nicht so helfen können, wie wir das getan haben. Wenn noch mehr Flüchtlinge kommen sollten, dann wird das, was wir haben, aber nicht reichen.

Aber organisatorisch funktioniert alles?
Hasselfeldt: Einwandfrei, und zwar mit den unterschiedlichen Hilfsorganisationen, den staatlichen Stellen und der Vielzahl an zivilgesellschaftlichen Akteuren. Wir haben auch viel Erfahrung gesammelt, weil wir leider von einer Krise zur anderen kommen: Erst war die Flüchtlingsbewegung 2015/2016, dann kam Covid, im vergangenen Jahr dann die Flutkatastrophe. Und nun der Krieg in der Ukraine.

Welchen Appell haben Sie an die Menschen im Land?
Hasselfeldt: Ich bin dankbar für die überwältigende Hilfsbereitschaft der Bevölkerung und hoffe, sie hält an: den spontanen Helfern vor Ort, den Haupt- und Ehrenamtlichen in den Verbänden, denjenigen, die Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung stellen, den vielen Sach- und Geldspendern. Für letztere gilt: Besser als Sachspenden sind Geldspenden, weil wir damit exakt das beschaffen können, was ganz konkret notwendig ist. Sachspenden hingegen, und mögen sie noch so gut gemeint sein, können Versorgungswege blockieren. Hilfsgüter selbst in die Ukraine zu bringen, davor kann ich nur warnen: Das ist Kriegsgebiet und sehr gefährlich.

Wieviel Spenden hat das DRK in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg bisher bekommen?
Hasselfeldt: Aktuell sind bei uns 50 Millionen Euro innerhalb von 20 Tagen eingegangen. Ein derartiges Spendenaufkommen in so kurzer Zeit hatten wir noch nie.

Glauben Sie, dass die Hilfsbereitschaft anhält? Nicht, dass es uns ergeht wie 2015…
Hasselfeldt: Ich glaube, dass die Hilfsbereitschaft anhält: Zum einen wegen der Nähe des Krieges - hier in Europa. Und zum anderen wegen des Personenkreises – es sind vorwiegend Frauen und Kinder und absolut hilfsbedürftige Menschen, die zu uns kommen. Bei vielen spüre ich eine große Liebe zu ihrer Heimat. Aber wir wissen nicht, wie lange der Krieg dauern wird und wie lange die Menschen hier bei uns bleiben. Daher sollten wir vom ersten Tag an Integration mitdenken und nicht nur einen vorübergehenden Aufenthalt im Blick haben.

Sie haben gleich nach Amtsantritt als Präsidentin des Roten Kreuzes Ihre Kollegen in Moskau besucht. Gibt es Kontakt bis heute? Was hören Sie diesbezüglich aus der russischen Zivilgesellschaft?
Hasselfeldt: Es gibt Kontakte wie zu vielen anderen nationalen Rotkreuz-Gesellschaften auch, die in dieser Krise tätig sind. Auch nach Russland sind Menschen vor den Folgen des Krieges geflohen oder wurden dorthin evakuiert: auch sie benötigen unparteiische und neutrale Hilfe. Daher ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Rotes Kreuz und Roter Halbmond weltweit neutral sind und niemals Partei ergreifen: Wir helfen aus eigenem Antrieb allein nach dem Maß der Not und sind nur dem Gebot der Menschlichkeit verpflichtet. Genau das ist es, was es uns ermöglicht, über Grenzen und Frontlinien hinweg aktiv zu sein – etwa, wenn es um die Evakuierungs-Konvois geht.

Aber man kann doch nicht wegblicken, wenn Krankenhäuser und Kinderheime zusammengebombt werden, oder?
Hasselfeldt: Das tun wir auch nicht. Das humanitäre Völkerrecht ist fast ebenso alt wie das Rote Kreuz. Es sieht eindeutig vor, dass in kriegerischen Auseinandersetzungen die Zivilbevölkerung geschützt und ihre Versorgung mit Wasser, Nahrung und Strom sowie die medizinische Versorgung gewährleistet werden müssen. Es sieht außerdem vor, dass Zivilisten auf sicherem Weg evakuiert werden können, wenn sie dies wollen. Wir rufen daher die Konfliktparteien dazu auf, die Regeln des humanitären Völkerrechts zu beachten und die Zivilbevölkerung zu jeder Zeit zu schützen.

Zum Abschluss eine persönliche Frage: Sie galten immer als enge Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Derzeit ist außerordentlich viel Kritik an ihr zu hören, etwa, was die deutsche Energieabhängigkeit von Russland angeht und den Zustand der Bundeswehr. Wissen Sie, wie es ihr geht? Und tut man ihr womöglich Unrecht?
Hasselfeldt: Ich hatte in den zurückliegenden Wochen keinen Kontakt mit ihr. Aber ich kann verstehen, dass sie sich nach dem Ausscheiden aus dem Amt erstmal zurückgezogen hat, um sich zu sortieren. Was die Zeit ihrer Kanzlerschaft angeht: Lassen sie uns jetzt erst mal die Probleme der Gegenwart und der Zukunft lösen. Den Blick zurück sollten wir dann den Historikern überlassen.

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