Kabul
Drittgrößte Stadt Herat im Westen Afghanistans fällt an Taliban

12.08.2021 | Stand 13.08.2021, 6:04 Uhr

Die drittgrößte Stadt Afghanistans ist an die Taliban gefallen. −Foto: afp

Die Städte in Afghanistan fallen wie Dominosteine. Die Taliban nehmen erst die strategische Stadt Gasni nahe Kabul ein. Am Abend folgt mit Herat die drittgrößte Stadt Afghanistans.

Die Taliban schreiten in ihrer versuchten Machtübernahme Afghanistans in großen Schritten voran. Am Donnerstag sind drei Provinzhauptstädte an die Islamisten gefallen, zwei davon mit großer Bedeutung. Am Morgen eroberten sie zunächst die nur 150 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Gasni im Südosten des Landes. Am Abend folgte mit Herat die drittgrößte Stadt. Die militanten Islamisten brachten damit 12 der 34 Provinzhauptstädte in weniger als einer Woche unter ihre Kontrolle. Auch aus Kandahar und Laschkargah im Süden wurden weitere Taliban-Angriffe gemeldet.



Der Taliban-Kämpfer dreht sich im Kreis. Er filmt mit seinem Handy, und was er filmt, dem mögen die wenigsten Afghanen glauben schenken: Seine "Mudschaheddin-Brüder", wie er sie nennt, vor der historischen Zitadelle der Stadt Herat aus dem 15. Jahrhundert. Sie war mit westlichen Geldern, darunter aus Deutschland, restauriert worden. Sogar ausländische Touristen haben sie besucht. Und nun laufen bewaffnete Taliban vor ihr herum und inspizieren Polizeiautos, die sie dort erbeutet haben.

Dem Fall der historischen Stadt Herat mit geschätzt 600 000 Einwohnern waren wochenlange Angriffe auf die Stadt vorausgegangen. Die Taliban konnten zunächst von den Sicherheitskräften und Milizen des dort heimischen Politikers und ehemaligen Kriegsfürsten Ismail Chan in Schach gehalten und teils auch wieder zurückgedrängt werden.

Am Donnerstagnachmittag aber dann häuften sich die Berichte darüber, dass die Islamisten von drei Seiten auf das Zentrum vorrückten. Erst aus dem Osten; dann hielten sie mit einem Angriff im Westen die Milizen von Ismail Chan beschäftigt, der 2001 den USA als einer der Führer der Nordallianz geholfen hatte, die Taliban zu vertreiben. Und schließlich stießen die Islamisten auch aus dem Norden vor.

Videos in sozialen Medien zeigen Taliban-Kämpfer in Herat, die mitten auf der Straße vorstürmen, ohne auch nur Deckung zu suchen. Am Donnerstagabend (Ortszeit) schließlich waren der Gouverneurspalast, das Polizeihauptquartier und das Gefängnis unter Kontrolle der Taliban. Der Provinzrat Ghulam Habib Haschimi warf den Sicherheitskräften vor, nicht gekämpft zu haben. Nur die kürzlich von Ismail Chan zusammengesammelten Kräfte des Volksaufstandes hätten sich gegen die Übernahme der Stadt gewehrt, sagte er.

Taliban hatten mehrfach versucht, Gasni einzunehmen

Am Morgen hatte der Fall der Stadt Gasni bereits alle Alarmglocken schrillen lassen. Gasni hat etwa 180.000 Einwohner und liegt an der wichtigen Ringstraße, die die größten Städte des Landes verbindet. Aufgrund ihrer Nähe zu Kabul hatten die Taliban bereits öfter versucht, diese einzunehmen. Am Abend, kurz nach Herat, übernahmen die Islamisten auch noch die kleine Provinzhauptstadt Kala-e Nau in der Provinz Badghis im Nordwesten.

"Der Ring um Kabul zieht sich weiter zu", sagte der Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Kabuler Denkfabrik Afghanistan Analysts Network nach dem Fall von Gasni. Die Taliban hätten nun zwei Optionen: "direkter Angriff oder abwarten, bis die Regierung in Kabul kollabiert", sagte Ruttig weiter. Nach Abwarten sah es am Donnerstagabend (Ortszeit) nicht aus. Aus weiteren Städten kamen beunruhigende Nachrichten. In Kandahar hatten sie bereits das Gefängnis erobert, in Laschkargah Berichten zufolge das Polizeihauptquartier.

Angesichts der Lage, sagt Afghanistan-Experte Ruttig weiter, könne man nur hoffen, dass noch der Ausweg zu Verhandlungen gefunden werde, um weitere Opfer und Zerstörungen zu vermeiden. Aus Diplomatenkreisen werden mittlerweile Zweifel laut, dass das politische Team der Taliban, das für die Friedensgespräche zuständig ist, noch viel zu melden hat. Vielmehr schlage nun die Zeit der Kommandeure.

Außenminister Maas warnt Taliban

Außenminister Heiko Maas (SPD) warnte die Taliban davor, ein Kalifat in dem Land zu errichten. Dann werde es "keinen Cent" an deutscher Entwicklungshilfe mehr geben, die derzeit bei rund 430 Millionen Euro pro Jahr liege, sagte Maas am Donnerstag im ZDF-"Morgenmagazin". "Das wissen auch die Taliban." Er rechne damit, dass sich die Islamisten an der Regierung in Afghanistan beteiligen und sie dominieren wollen. Es sei dann entscheidend, wie die künftige Verfassung des Landes aussehen werde und welche Rechte es für die Menschen geben werde.

Von der US-Regierung hieß es am Donnerstag, man werde keine neue afghanische Regierung anerkennen, falls diese die Macht mit Gewalt an sich gerissen haben sollte. Diese "Botschaft an die Taliban" werde später auch in einer gemeinsamen Stellungnahme mit mehreren internationalen Partnern, darunter auch Deutschland, ausgedrückt werden. Ein gewaltsame Machtübernahme durch die Taliban würde Afghanistan international isolieren, woraufhin auch Hilfszahlungen eingestellt würden, sagte ein Sprecher des US-Außenministeriums.

Verlegung von rund 3000 zusätzlichen US-Soldaten

Der Sprecher kündigte ferner an, dass die USA ihre diplomatische Präsenz in Afghanistan in den kommenden Wochen auf ein Minimum reduzieren würden. Die Botschaft in Kabul bleibe aber an ihrem derzeitigen Standort geöffnet. Ein Sprecher des US-Verteidigungsministeriums kündigte die Verlegung von rund 3000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan an, um die Sicherheit am Flughafen Kabul zu verstärken. Es gehe darum, die Reduzierung des US-Botschaftspersonals zu unterstützen. Die US-Mission in Afghanistan endet offiziell am 31. August.

Das Auswärtige Amt forderte am Donnerstag deutsche Bürger zur zügigen Ausreise aus Afghanistan auf. Derzeit sei noch "eine hohe zweistellige Zahl" Deutscher im Land. Maas kündigte an, dass derzeit "ein bis zwei Charterflüge" organisiert würden, um noch vor Ende des Monats "eine größere Anzahl von Menschen" aus Afghanistan auszufliegen. Dabei dürfte es vor allem auch um ehemalige afghanischen Ortskräfte gehen, die für die Bundeswehr, das Auswärtige Amt oder andere Bundesministerien in Afghanistan tätig waren. Seit Wochen gibt es Kritik daran, dass die Rückführung zu langsam erfolge.

Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zeigte sich im Deutschlandfunk sehr besorgt über den raschen Vormarsch der Taliban. "Deswegen sind das auch sehr, sehr bittere Bilder, gerade mit Blick auch auf unseren Einsatz in den vergangenen 20 Jahren", sagte die CDU-Politikerin. Die letzten Bundeswehrsoldaten haben das Land bereits Ende Juni verlassen.

− dpa