Die Horror-Internate von Kanada

03.06.2021 | Stand 03.06.2021, 4:00 Uhr

Auf dem Grundstück der Kamloops Indian Residential School, einem ehemaligen Internat für Ureinwohner, haben Spezialisten die Überreste von 215 Kindern kanadischer Indianer entdeckt. Ihre Leichen wurden verscharrt, wenn sie die Zwangsmaßnahmen nicht überlebten. −F.: Snucins, dpa

Gordie Sebastien ist fünf Jahre alt, als ihn seine Großmutter vor einem hohen Eisentor absetzt. Ein letzter Gruß, ein letztes Händedrücken, eine kurze Umarmung, dann verschwindet Sebastien in einem mächtigen Backsteinbau mit einem Glockenturm und einem Kreuz auf dem Dach. Der kleine Gordie wird seinen ersten Schultag nie vergessen. Drinnen muss er sich splitternackt ausziehen. Dann schert ein Helfer sein dunkelblondes Haar und überschüttet ihn mit Desinfektionsmittel. Sebastien ruft nach seiner Oma. Die aber darf nicht zu ihm.
Über ein halbes Jahrhundert ist das her, aber Sebastien schildert es so lebhaft, als sei es gestern gewesen: "Es war so entwürdigend. Vom ersten Tag an haben sie uns systematisch erniedrigt, geschlagen und misshandelt."
Gordie Sebastien gehört zum Volk der Ktunaxa, einem indigenen Volk aus Kanada. Von 1957 bis 1968 musste er ein Umerziehungsinternat für Ureinwohner besuchen, wie viele Indianerkinder zu dieser Zeit. Die "St. Eugene Mission Residential School" im St. Mary’s Reservat in British Columbia war ein solches: Betrieben von der Kirche, eingerichtet und finanziert vom Staat.

"Den Indianer in mir gewaltsam herausgeprügelt"

In "Residential Schools" wurde den Ureinwohnern nicht nur das Lesen und Rechnen gelehrt. Den Kindern sollte dort auch früh ihre indigene Kultur und Sprache genommen werden, um sie in der weißen Gesellschaft zu assimilieren. Über ein Jahrhundert lang war das in Kanada gängige Praxis. Das letzte Indianer-Internat schloss 1996. Etwa 150000 Schüler mussten die Klassen besuchen, etwa 60000 sind noch am Leben.
Gordie Sebastien ist einer von ihnen. Er ist heute über sechzig und steht wie einst vor dem Eisentor zum Schulgelände. Er trägt Baseballmütze, Fleece-Jacke und Jeans. Seine ehemalige Schule wurde 1970 geschlossen, das Gebäude aber steht noch.
Viele Jahrzehnte lang kam es in der Backsteinschule zu schlimmster körperlicher und seelischer Gewalt, Misshandlungen, sexuellem Missbrauch, Todesfällen gar. Als Sebastien darüber erzählt, stockt ihm immer wieder seine Stimme. Manches davon hat er selbst erlebt, manches beobachtet. Manchmal bleibt es unklar.
Der Alltag in der Schule ließ keinen Raum für den Indianer im Kind. Sebastien war neun Jahre alt, als er im Unterricht einmal lachen musste. Ein Versehen nur, doch es hatte Folgen. Ein Lehrer verprügelte ihn mit einem Lederriemen. Später wurde er von einem Helfer die Treppe heruntergestoßen. "Man hat den Indianer gewaltsam aus mir herausgeprügelt", meint Sebastien. Die eigene Muttersprache war ihm untersagt. Kontakt zu den Eltern oder Großeltern war unerwünscht. Sie durften ihre Kinder nur einmal im Monat besuchen.
Am schlimmsten war die körperliche und seelische Gewalt. Ein Mitschüler wurde einmal so sehr gezüchtigt, dass er zwei Wochen lang mit gebrochenen Knochen im Bett liegen bleiben musste. Erst als die Prellungen und Blutergüsse verheilt waren, durfte er ins Krankenhaus. Ein anderer wurde zwei Tage lang nackt in einen Kleiderschrank gesperrt.
Sebastien erinnert sich auch an Vorfälle sexueller Gewalt. Ausführlich will er nicht darüber sprechen. Nur so viel will er berichten: "Wir alle kannten Opfer, Mädchen und Jungen. Manchmal sind wir stundenlang mit ihnen auf der Treppe gesessen, um sie zu trösten. Mehr konnten wir nicht tun."

Auch Tote gab es. Laut Schätzungen starben in den Indianer-Internaten insgesamt mehr als 6000 Kinder, die meisten von ihnen an Krankheiten wie Tuberkulose. Manche starben auch an den Folgen der Gewalt, Fehlernährung oder Einsamkeit und wurden zum Teil anonym in Gräbern auf dem Schulgelände verscharrt.
Noch immer werden neue Opfer gefunden. Auf dem Gelände eines ehemaligen Internats in der westkanadischen Stadt Kamloops fand man letzte Woche 215 Kinderleichen. An vielen Regierungsgebäuden in Kanada wehen die Flaggen seitdem auf halbmast.
Nicht wenige Opfer, die überlebten, nahmen sich später aus Scham und Angst das Leben. "Jeden Tag wurde uns eingehämmert, wie schlecht wir sind, und nach einer Weile haben wir es tatsächlich geglaubt", sagt Sebastien.
Eine staatliche Wahrheits- und Versöhnungskommission hat die Vorfälle dokumentiert und Treffen organisiert, bei denen Opfer das Erlebte schildern können. In ihrem Abschlussbericht 2015 nannte die Kommission die Vorfälle "kulturellen Völkermord". Die Regierung hat sich offiziell entschuldigt und Entschädigungen gezahlt. Auch der Papst hat die Vorfälle bedauert. Trotzdem gibt es in den meisten Indianergemeinden bis heute mehr Selbstmorde, kriminelle Vorfälle und Drogenprobleme als im Rest Kanadas.

"Indigenen Gemeinschaften ihre Kinder geraubt"

Premierminister Justin Trudeau kündigte "konkrete Schritte" zur Unterstützung der indigenen Bevölkerung seines Landes an. Er sei "erschüttert von der beschämenden Politik, die den indigenen Gemeinschaften ihre Kinder gestohlen hat", sagte er beim Gedenken an die 215 Toten von Kamloops. Die Suche nach menschlichen Überresten auf weiteren Schulfriedhöfen sei wichtig, "um die Wahrheit zu erkunden", betonte der Regierungschef, der die Versöhnung mit den 1,7 Millionen Ureinwohnern Kanadas bei seinem Amtsantritt 2015 zu einem Schwerpunkt seiner Politik erklärt hatte. "Das tragische Erbe der Internate ist noch heute präsent. Es bleibt viel zu tun."
Auch im St.-Mary’s-Reservat haben sie lange diskutiert, wie es weitergehen soll, vor allem mit dem alten Schulgebäude. Irgendwann hatte es der Staat in die Obhut der Ktunaxa übergeben und lange stellten sie sich die Frage: Wie sollten sie umgehen mit dem Ort der Schande?
Die Frage hat auch Sophie Pierre umgetrieben. Pierre war neun Jahre lang Schülerin im Internat und wurde später Häuptling ihres Stamms. Heute ist sie über siebzig. Pierre schließt das Gebäude auf und sagt: "Viele von uns wollten es abreißen. Wir wollten den Schmerz tilgen, ein für alle Mal. Am Ende aber haben wir uns entschieden, es doch stehen zu lassen." Aus der Schule von einst ist ein Hotel geworden. Die Schlafsäle von früher sind heute Gästezimmer. Die Kapelle mit dem Kirchenfenster ist ein Bankettsaal. Wo einst Indianerkinder verprügelt und vergewaltigt wurden, erholten sich heute Touristen. Pierre erzählt, dass ihr Volk zwei Jahre lang darüber diskutiert hat, erst dann war der Konsens da. "Man kann die Erinnerung nicht einfach abreißen", ist sie überzeugt.
Nebenbei haben in dem Hotel 50 Stammesangehörige einen Job gefunden. Auch Gordie Sebastien. Er arbeitet heute als Nachtwächter und sagt, das Hotel helfe ihm auf seinem Weg der Heilung.