Landshut/Passau
Das märchenhafte Leben der Marlene Reidel

20.12.2013 | Stand 20.12.2013, 14:48 Uhr

Marlene Reidel, Kinderbuchautorin, Malerin. − Foto: Peter Litvai

Hart und karg waren viele Jahre der großen Kinderbuchautorin Marlene Reidel aus Landshut − Zum 90. Geburtstag blickt sie nur dankbar zurück.

Marlene Reidel hätte manchen Grund, bitter zu sein. Und ist es nicht. Ein strenger Zug liegt um die Lippen, ihre Augen blicken ernst auf den Gast, als sie den Tee anbietet. Ernst und gütig und herzlich. Und dankbar für ein Leben, das 90 Jahre währt. "Wir ham ein märchenhaftes Leben g’habt!", sagt die am 20. Dezember 1923 geborene Kinderbuchautorin und Malerin, und beißt genießerisch in eine Scheibe selbst gebackenes Quittenbrot mit Ingwer. "Ingwer mag ned jeder. Ich mag’s." Dieses "Wir", das sind Marlene Reidel und Karl Reidel, mit dem sie bis 2006 das Leben und 58 Ehejahre teilen durfte. Ein hervorragend attraktiver 17-Jähriger, der stur ans Herz der 21-Jährigen klopfte, bis sie ihm öffnete und über die Jahre sechs Kinder schenkte. Marlene Reidels Leben ist ein Leben im Plural.

Über 100 Kinderbüchergemalt und geschriebenDarum sagt sie: "Ob’s ein Fest gibt zum Neunziger, das überlass ich den Kindern." Viele sind gekommen in das Haus, das sie und ihr Mann draußen vor Landshut gebaut haben, und erwiesen der großen bayerischen Kinderbuchautorin die Ehre. Über 100 Bücher hat sie gemalt und geschrieben, "Kasimirs Weltreise", "Abenteuer wunderbar", "Der schwarze Rab", in über 30 Sprachen wurden sie übersetzt, vom deutschen Jugendbuchpreis über den bayerischen Verdienstorden bis zum Kulturpreis Bayern ist Marlene Reidel reich dekoriert.

"Und so schaut meine Malerei aus." Marlene Reidel streichelt über ein Selbstporträt in Öl. "Oder hätte ausschauen können." Denn es sind zwei Welten: Die Buchillustrationen, kindlich, flächig, reduziert, von archetypischer Qualität. Die Malerei dagegen ist autonom, subjektiv, durchdrungen vom Geist des Kubismus und Expressionismus, ohne sich ihnen anzuschließen. "Ich wollte Malerin sein von Kindesbeinen an. Aber mit den Kindern ist es nimmer recht gegangen. In einem Zimmer mit vier Kindern, da hat ma keine Ruh, was malt ma denn da?" Wenige Bilder gibt es aus dieser Zeit. Kinderporträts vor allem, in Öl auf Leinwand, Öl auf Karton, Tempera auf Packpapier, was grad vorhanden war.

Vor allem aber malt sie für die Kinder. "Wir ham a Gaudi g’habt und uns ausgedacht, was wir täten, wenn wir zaubern könnten, oder in einem Papierschifferl zum schwarzen Meer fahren, oder wenn man auf den Mond steigen könnt!" In der Nacht, wenn die Kinder schlafen, malt sie weiter, schreibt simple Reime dazu, "weil ich’s ned besser gekonnt hab." Das Buch "Gabriel und der Zauberstab" entsteht auf diese Weise, "Der Erich war ein schönes Kind", und zuallererst "Kasimirs Weltreise". Ein handgebundenes Exemplar hatte Marlene Reidel ihrem Mann zu Weihnachten geschenkt, im farbigen Linolschnitt. Stolz auf die Künstlergattin zeigt es Karl Reidel seinen Studienfreunden, einer kennt einen jungen Verleger, der lehnt ab, seine Angestellte stimmt ihn um: Das Buch wird zum Weltbestseller, das Hamburger Schauspielhaus will ein Bühnenbild in genau dieser Ästhetik haben, neben Gustaf Gründgens sitzt Marlene Reidel in der Probe. Ihren Namen liest man jetzt in der Süddeutschen Zeitung und in der New York Times, die "Kasimir" 1960 zu den zehn besten Kinderbüchern zählt.

Zweimal hatte das Schicksal davor Marlene Reidels akademische Ausbildung zur Malerin durchschnitten. Geboren zufällig in Landshut "aufm Kanapee beim Onkel Jackl", wo die ledig schwangere Mutter Unterschlupf fand, nachdem sie von den eigenen Eltern hinausgeworfen worden war, wuchs sie als eines von sieben Kindern eines Tagelöhnerpaares −und Liebespaares − auf. Der Vater gab die begabte Zeichnerin in die Lehre bei der Keramikwerkstatt Huber-Roethe, mit 18 wurde sie eingezogen zum Reichsarbeitsdienst. "Ich hab Glück g’habt! Die Führerin in der Kaserne hat ein Faible für Kunst g’habt und mich jeden Sonntag raus lassen − wenn die anderen ihre Fahnen und ihren Schmarrn gemacht haben." Auf gut Glück schickte Marlene die so entstandene Mappe an die Akademie der Bildenden Kunst, wurde zur Aufnahmeprüfung eingeladen und bestand.

"Und so war ich, völlig ungebildet und von der Kunst keine Ahnung, auf einmal Studentin der Akademie. Aber nur drei Wochen lang." Dann wurde München zerbombt, die Akademie ein Haufen Schutt. "Da bin ich runter gegangen an die Isar und immer gradaus, zwei Tage lang, nach Landshut, heim." Danach Kriegshilfsdienst in Granatenfabrik und Flüchtlingslager in Velden bei Landshut. "Schon wieder so ein Glück, dort aufs Land sind keine Flieger hingekommen." Endlich ist der Krieg aus, im Herbst 1945 nimmt die Münchner Kunstakademie im Schoss Haimhausen den Betrieb wieder auf, Marlene Reidel lernt bei Prof. Hans Gött, was Kunst ist. Nicht, was die Nazis dafür halten. Endlich.

1948 hat Marlene Reidel ihr Studium abgeschossen − steht im Internetlexikon Wikipedia. "Es wird viel Schmarrn geschrieben", sagt die Künstlerin. Denn die Wahrheit geht so: Im dritten Semester zeigt Marlene Reidel einer Tante in Landshut ihre Bilder. Ein Steinmetzlehrling kommt dazu. "Er hat meine Bilder ang’schaut, und mich auch. Und hat mich nimmer auslassen. Sowas von hartnäckig! Und schwanger worden bin ich auch." 1947 kommt der Brief der Akademie: ledig, schwanger − Frau Reidel, Sie müssen die Akademie verlassen! Im Herbst wird das erste Kind geboren, Beate (Rose), die Malerin. Vier sind es, als Karl Reidel nach sechs Jahren mit Diplom von der Akademie nach Hause kommt. Noch als Lehrling hatte Marlene Reidel ihn geheiratet. Seine Skulpturen aus dem Atelier in München, ein Jüngling, weibliche Torsi, haben keinen Platz in der Einzimmerwohnung, der Bildhauer versenkt sein Werk in der Isar.

Gemeinsame Erfolge mit ihrem Mann KarlEndlich beginnt ein gemeinsames Leben. "Und dann hamma Glück g’habt." Die Kunst der beiden kommt an, sie verdienen gutes Geld, vom Preisgeld eines (nicht realisierten) Geschwister-Scholl-Denkmals der Universität München kaufen sie sich den Grund einer aufgelassenen Sandgrube und bauen das Haus, in dem Marlene Reidel heute noch ihre Gäste empfängt.

Sie hat aufgehört zu malen, vor einigen Jahren schon. "Ich hab nimmer den Elan gehabt und diese brennende Sucht. Was Neues ist mir nimmer eingefallen und Wiederholungen brauch ich ned." Gelassen sagt sie das, nichts Resigniertes ist in der Stimme. Nur Ehrlichkeit, auch zu sich selbst. Behutsam blättert sie in einem Katalog ihres Mannes. "Da war’n wir unterwegs, wir zwei, Südfrankreich, Spanien, Marokko, drei Monat lang. Und ich hinten drauf auf der Vespa." In Marlene Reidels lachenden Augen lässt sich sehen, was Dankbarkeit heißt. "Wenn ich denk, wie schwer meine Eltern haben arbeiten müssen als Dienstboten, das war die unterste Klasse. Und ich konnt’ studieren! Und ich erwisch so einen Mann! Wir kommen wirklich zu Wohlstand und haben sechs gesunde Kinder, die alle begabt sind. Doch, ein märchenhaftes Leben."

Erschienen am 21. Dezember 2013 im Feuilleton der Passauer Neuen Presse.

Bücher und einige Werke aus Marlene Reidels Archiv sind zu sehen und zu erwerben unter www.galerie-rose-landshut.de.