Das Großarltal: Die grüne Dachgaube Europas

31.08.2018 | Stand 20.09.2023, 3:57 Uhr

Grün, soweit das Auge reicht: Einen der besten Ausblicke über das Großarltal genießen Wanderer vom Kreuzkogel (2027 Meter) aus.

Mit rund 40 bewirtschafteten Hütten gilt die Region um Großarl als das "Tal der Almen". Während die Senner den Sommer auf dem Berg verbringen, verbinden die Menschen im Tal Tradition und Tourismus.

Und jetzt? Zwei Stunden Aufstieg. Extra früh aufgebrochen, um als Erster auf dem Gipfel zu sein. Alles für die Katz? Der Platz unter dem Gipfelkreuz ist besetzt – und zwar so, dass niemand sonst auch nur einen Fuß dorthin setzen könnte. Da steht man nun und fragt sich: Wie konnten die nur schneller sein, zumal sie nicht gerade austrainiert ausschauen?

Um die Milchkühe beim Aufstieg auf den Remsteinkopf zu überholen, muss man schon vor Sonnenaufgang aus den Federn. Wenn die ersten Wanderer morgens auf dem 1945 Meter hohen Gipfel ankommen, haben die Wiederkäuer dort, über den Dächern von Großarl, längst gefrühstückt. Und dann: verdauen. Mit Aussicht auf saftige Bergwiesen, auf die nächste Mahlzeit. Die Wanderer müssen warten. Sie wissen es noch nicht, aber sie werden es gern getan haben.

Es heißt, der Bayerische Wald sei das grüne Dach Europas. Das Großarltal im Salzburger Land muss die Dachgaube sein. Noch höher, noch grüner. Mit dem Gamskarkogel (2467 Meter) steht hier der höchste Grasberg Europas. Rund 40 bewirtschaftete Hütten haben der Region das Pradikät "Tal der Almen" eingebracht.

Jahrhundertealte Almen, frische JausenJosef Andexer kommt heute kaum hinterher. Kurzer Ratsch hier, ein kleiner Schwank dort. Seine Bichlalm ist ein gefragter Ort an diesem Samstag. Die Sonne wird sich den ganzen Tag nicht zeigen und doch zieht es die Menschen hierher. Einheimische, Touristen. Sie sind froh über die Abkühlung nach unzähligen heißen Tagen. Dank Andexer scheint hier ohnehin jeden Tag die Sonne. Er hat die Alm vor ein paar Jahren an seine Kinder übergeben, mit dem Arbeiten aufhören wird er aber wohl nie. Die Sommer verbringt er hier oben.

In Tracht und mit verschränkten Armen steht er auf der Terrasse der Bichlalm. Sein Dialekt ist rauer, schwerer verständlich als der, den die Jüngeren im Tal sprechen. Und doch hört man ihm gern zu. Weil er so unaufgeregt erzählen kann. Von seiner Jugend hier, vom Almabtrieb im Oktober, von der Alm selbst. Auch wenn er über deren Geschichte gar nicht so viel weiß. Seit wann sie hier steht? Weiß er nicht. "1780 ist hier einmal jemand gestorben", sagt er. Der einzige Anhaltspunkt. Die Hütte, auf deren Terrasse die Wanderer heute das Bergpanorama genießen, steht seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Fenster der Hütte haben sie vor ein paar Jahren ausgetauscht. Sonst hat sich hier oben seither nicht viel verändert.

Ist der letzte Schnee geschmolzen – das kann schon einmal bis Mai dauern – treiben die Andexers ihre 23 Kühe auf den Berg. Wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, Wanderern den Weg zum Gipfelkreuz des Remsteinkopfes zu erschweren, geben sie Milch. Milch, aus der man die Bergluft förmlich herausschmeckt, das frische Gras, die Sonne. Wer sich hier, auf der Bichlalm, eine Brotzeit bestellt – eine Jause, wie der Österreicher sagt –, der bekommt ein Brettl voller hauseigener Produkte: Salami, Speck. Ein Biss in den Käse und man hat den Wegversperrern vom Remsteinkopf verziehen. Dazu der Ausblick vom Sonnenplateau ins Tal.

Dort unten, im Kern der 3800-Einwohner-Gemeinde Großarl, ist Richard Driess gerade mit dem Maßband beschäftigt. In seiner Werkstatt sieht es nach Arbeit aus. Am Fenster steht eine Drechselbank, auf dem großen Werktisch stapeln sich Modelle, die mal mehr, mal weniger nach Füßen aussehen. Richard Driess passt perfekt in dieses geordnete Chaos, seine Haare zeigen Richtung Bichlalm, die große Brille rutscht ihm immer wieder Richtung Nasenspitze. Der Holzklumpen, den er gerade ausmisst, soll einmal das Abbild eines Fußes werden, um den der 49-Jährige dann einen Schuh formt. Richard Driess ist Schuster – und Ur-Großarler.

In dem Laden, der direkt an seine Werkstatt anschließt, können sich Kunden maßgefertigte Schuhe bestellen. Jedes Paar einzigartig. An besonders ausgefallenen Aufträgen arbeitet Driess schon einmal 50 Stunden. Ein fertiges Paar gibt es selten unter 2000 Euro. Die Auftragsbücher des Schusters sind voll. Vor einigen Jahren hat er in Salzburg eine zweite Werkstatt aufgemacht. Gerade dort, in der Großstadt, kommen seine Schuhe an. "In Salzburg gibt es viele Leute, die alles haben. Und wenn du alles hast, dann willst du irgendetwas Besonderes", sagt Driess. Doch auch, wenn er in der Stadt mehr Geschäft macht – am liebsten arbeitet er hier in seiner kleinen Werkstatt, seiner Heimat. Sein Opa hat den kleinen Laden 1928 eröffnet.

Gratis Wandertouren und ein "Sinnesweg"Driess hat längst auch Wanderschuhe von der Stange und Rucksäcke im Sortiment. Mit ihnen macht er hier das meiste Geschäft. Einst war Großarl ein klassischer Wintersportort. Seit Wandern bei Jüngeren im Trend liegt, ist das Dorf ganzjährig beliebt. "Früher war das etwas für alte Leute", sagt Driess schmunzelnd. 5500 Betten gibt es inzwischen im Ort – bei 3800 Einwohnern. Was macht das mit Großarl?

"Wir sind hier eine Gemeinschaft", sagt Schuster Driess. Die Großarler seien ein besonderer Schlag, besonders herzlich, auch gegenüber Auswärtigen. Einen Spaziergang durchs Dorf später muss man sagen: stimmt. Egal, wen man anspricht, fast immer schlägt einem eine fast ungewöhnliche Freundlichkeit entgegen. Zwischen den Zeilen hört man aber auch: Tourismus sei schön und recht, solange er mit Maß und Ziel betrieben wird. Man wolle nicht, dass das Buhlen um Touristen die Dorfgemeinschaft gefährdet.

Noch sind sie in Großarl davon weit entfernt. Die Hotels arbeiten mehr mit- als gegeneinander. Der Verein "Berg-Gesund" bietet in Zusammenarbeit mit rund 30 Hotelbetrieben kostenlose Wander- und Klettertouren an. Der im Juli eröffnete "Sinnesweg" soll auch Familien auf den Berg locken. Wenn sich die Hoteliers in einem einig sind, dann darin: Sie wollen ihre Gäste nicht zum Wellnesspublikum erziehen, sondern in die Natur bringen. Sieht auch Rupert Kreuzer so.

Nur wenige Meter von Richard Driess’ Schusterei entfernt, betreibt der 47-Jährige eine Frühstückspension. Bekannt ist er aber nicht dafür. Die Großarler nennen Rupert Kreuzer nur "Astei" – Spitzname und Marke zugleich. Seine geschnitzten Masken kennt im Salzburger Land fast jeder. In der Nacht zum 6. Dezember, zum Nikolaustag, ziehen hier Kinder durch die Straßen. Sie verkleiden sich als Krampusse, mit Fell, Gürtel und eben Kreuzers Masken. Seit er zwölf ist, schnitzt er. "Mein Vater sagte, dass er nicht jedes Jahr eine neue Kramperl-Maske kaufen kann, also habe ich mir selbst eine gemacht."

Der Andreas Gabalier unter den SchnitzernBereits jetzt, Mitte August steht "Asteis" Werkstatt voll mit Masken, einige schon furchteinflößend detailliert, manche noch fast im Roh-Zustand. Kreuzer selbst sieht aus, wie der Spagat, den sein Heimatdorf hinbekommen will: Modernen Tourismus zulassen und gleichzeitig Traditionen bewahren. Der Schnitzer trägt eine gestrickte Trachtenjacke, darunter ein modernes T-Shirt. Im Gesicht ein kerniger Vollbart, auf dem Kopf eine Undercut-Frisur. Rupert Kreuzer sieht aus wie der Andreas Gabalier unter den Schnitzern.

Der "Astei" kennt das Leben im Tal und auf dem Berg. In Südtirol war er lange Senner. Zur Jahrtausendwende zog es ihn in die Heimat zurück. Er wollte nicht, dass der Stadl seines Vaters im Ortskern verfällt. Heute steht hier ein wahres Juwel aus Holz im Zentrum von Großarl, Kreuzers Kunden kommen aus der ganzen Welt. Er selbst ist am liebsten draußen, auf dem Berg, und genießt den Blick auf das "Tal der Gesetzlosen", wie er es nennt. "Eine Region, die von vier Seiten von Bergen umgeben ist, entwickelt zwangsläufig Eigenarten. Unser Dialekt ist anders, wir gelten als besonders fleißig." Und noch eines hebt sie hier von manch anderer Region in Österreich ab: Das Großarltal ist bei all dem Tourismus, der auch hier Einzug gehalten hat, authentisch geblieben.

INFORMATIONEN

Das Großarltal ist von Mai bis Oktober herrlich grün, im Winter schneesicher. Im Sommer laden 400 Kilometer markierte Wege und 40 Almen zum Wandern ein. Im erwarten Skifahrer 73 Kilometer präparierte Pisten.

ANREISEN

Über Passau oder München geht es mit dem Auto nach Salzburg, von dort über Bischofshofen und St. Johann im Pongau nach Großarl.

ÜBERNACHTEN

Zentral im Ort liegt das kleine, familiengeführte Hotel "Berg-Leben". Es wurde im Sommer neueröffnet. Die Besucher erwartet eine kleine Sauna-Landschaft, moderne Zimmer und ein frisches, hochwertiges Frühstück. Große Luxus-Resorts gibt es im Ort kaum, dagegen viele Frühstückspensionen mit Wanderwegen vor der Haustür.

www.grossarltal.info

www.salzburgerland.at

PNP-Volontär Alexander Augustin reiste auf Einladung des Hotels "Berg-Leben" ins Großarltal.