Mediengruppe Bayern exklusiv
Charlotte Knobloch: „Erinnern an Reichspogromnacht ist kein Selbstzweck“

08.11.2022 | Stand 22.09.2023, 3:36 Uhr

Anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 weist Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, darauf hin, dass das Gedenken an das, was den Juden in Deutschland angetan wurde, am Schwinden sei. −Foto: Sven Hoppe/dpa

Von Gernot Heller

Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, ist Zeitzeugin und die Stimme der jüdischen Gemeinschaft weit über Bayern hinaus. Sie tritt couragiert gegen Antisemitismus und Diskriminierung auf. Anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht am 9. November 1938 weist sie darauf hin, dass das Gedenken an das, was den Juden in Deutschland angetan wurde, am Schwinden sei.



„Das Gedenken wird schwieriger, weil immer weniger Zeitzeugen berichten können, und gleichzeitig schwindet das Bewusstsein dafür, warum das überhaupt ein Problem ist“, sagte Knobloch der Mediengruppe Bayern am Mittwoch.

„Viele Menschen in Deutschland haben heute den fatalen Eindruck, Erinnern sei eine Art Selbstzweck, und deshalb könne man es bei mangelndem Interesse auch bleiben lassen“, erklärte die Zeitzeugin. Doch „in Wirklichkeit erinnern wir an Verfolgung und millionenfachen Mord vor allem, damit die Geschichte sich nicht wiederholt und damit wir wissen, was wir an unserer Demokratie haben.“

„Schutz der Demokratie und der jüdischen Bürger sind keine getrennten Kategorien“

„Der Schutz der Demokratie und der jüdischen Bürger sind keine getrennten Kategorien, die man sauber an verschiedenen historischen Gedenktagen festmachen kann“, sagte Knobloch dazu, dass am 9. November zudem des Mauerfalls und der Ausrufung der Republik 1918 gedacht wird. Jede Erinnerung, die den Erhalt der Demokratie befördere, sei hochwillkommen.

Es verwundert Knobloch nicht, dass in Umfragen Vorbehalte gegenüber der Demokratie und auch Antisemitismus wieder stärker werden. „Das ist kein Wunder, denn beide hängen zusammen. Sie werden kaum einen Antisemiten finden, der eine echte pluralistische Demokratie unterstützt, und umgekehrt hat noch jede antidemokratische Verschwörungstheorie ihre antisemitischen Elemente.“ In der Pandemie hätten dies die Querdenker gezeigt. Knobloch warnt daher erneut: „Wo der Judenhass die Gesellschaft einmal bestimmt, da sind jüdische Menschen nur die ersten Opfer. Am Ende sind alle gefährdet – und deshalb sind in einer Lage wie jetzt auch alle gefordert.“

„Für heutige Generationen hat Erinnerung nichts mehr mit Schuld zu tun“

Beim Gedenken an den Zivilisationsbruch des Holocaust sagt Knobloch „ausdrücklich, dass das für die heutigen Generationen absolut nichts mehr mit Schuld zu tun hat“. Und weiter: „Trotzdem tragen wir alle Verantwortung für Werte wie Respekt, Toleranz und Zusammenhalt, ohne die dieses Land nie hätte werden können, was es heute ist.“ Wer denen die Schlüssel zur Macht gebe, die diese Werte missachteten, mache einen historischen Fehler.

Das Interview im Wortlaut:

Sie waren zum Zeitpunkt der Reichspogromnacht 1938 noch ein Kind. Haben Sie dennoch eine Erinnerung daran?
Charlotte Knobloch: Ich war damals erst sechs Jahre alt, aber ich erinnere mich noch an den Abend in allen Details. Mein Vater wurde nachmittags telefonisch gewarnt: „Gehen Sie mit Ihrer Familie auf die Straße, es ist etwas gegen die Juden im Gange.“ Wir wollten erst zu seinem Büro, das er als sogenannter „Konsulent“ noch betreiben durfte, nachdem ihm die Anwaltszulassung entzogen worden war. Als er aber geistesgegenwärtig vorher dort anrief und nach sich selbst fragte, antwortete ihm eine fremde Männerstimme, dass man schon auf ihn wartete. Diese Zuflucht fiel damit aus. Wir irrten durch München, zwischen klirrenden Fensterscheiben und der Gewalt und dem Geschrei. Wir hielten vor der brennenden Ohel-Jakob-Synagoge an, bis ich anfing zu weinen und mein Vater mich schnell weiterzog, damit wir keinen Verdacht erregten. Abseits der Hauptverkehrswege schlugen wir uns am Ende bis nach Gauting durch, einem Vorort weit vor den Toren der Stadt. Dort konnten wir bei Freunden meines Vaters die Nacht verbringen. Die Erwachsenen waren gram vor Sorge, und für mich als Kind war alles noch viel schlimmer. Meine Großmutter war am nächsten Tag zum Glück wohlauf, aber nach diesem Erlebnis war auch mein Vater bereit, das Land zu verlassen. Leider gelang das nicht mehr.

Ist der Konsens des Gedenkens an das, was den Juden in Deutschland angetan wurde, am Schwinden?
Knobloch: Das muss man leider klar bejahen. Das Gedenken wird schwieriger, weil immer weniger Zeitzeugen berichten können, und gleichzeitig schwindet das Bewusstsein dafür, warum das überhaupt ein Problem ist. Viele Menschen in Deutschland haben heute den fatalen Eindruck, Erinnern sei eine Art Selbstzweck, und deshalb könne man es bei mangelndem Interesse auch bleiben lassen. In Wirklichkeit erinnern wir an Verfolgung und millionenfachen Mord vor allem, damit die Geschichte sich nicht wiederholt und damit wir wissen, was wir an unserer Demokratie haben. Dass dieses Bewusstsein zurückgeht und gleichzeitig eine Partei wie die AfD heranwächst, die Vergessen zum Programm erhebt, ist kein Zufall. Diese Entwicklung ist sehr gefährlich für unser Land.

Am 9. November wird zudem des Mauerfalls gedacht, auch der Ausrufung der Republik 1918. Werden die Deutschen der Verpflichtung gerecht, die Demokratie und zugleich dabei die jüdischen Bürger zu schützen?
Knobloch: Diese Debatte um das Datum 9. November führen wir seit 1989, die werden wir heute nicht auflösen können. Der Schutz der Demokratie und der jüdischen Bürger sind keine getrennten Kategorien, die man sauber an verschiedenen historischen Gedenktagen festmachen kann. Deutschland ist heute ein freies und sicheres Land für alle seine Bürger, ob jüdisch oder nicht, und jede Erinnerung, die den Erhalt dieser Errungenschaften befördert, ist mir hochwillkommen.

Die Vorbehalte gegenüber der Demokratie werden laut Umfragen stärker, auch der Antisemitismus?
Knobloch: Ganz klar ja, und das ist auch kein Wunder, denn beide hängen zusammen. Sie werden kaum einen Antisemiten finden, der eine echte pluralistische Demokratie unterstützt, und umgekehrt hat noch jede antidemokratische Verschwörungstheorie ihre antisemitischen Elemente. Die „Querdenker“ haben das während der Pandemie wieder gezeigt. Ich sage seit Jahren: Wo der Judenhass die Gesellschaft einmal bestimmt, da sind jüdische Menschen nur die ersten Opfer. Am Ende sind alle gefährdet – und deshalb sind in einer Lage wie jetzt auch alle gefordert.

Wie muss die Lehre aus den Geschehnissen am 9. November 1938 lauten?
Knobloch: Die wichtigsten Lehren wurden im Grundgesetz schon 1949 institutionalisiert: Unbedingter Schutz der Menschenwürde, Achtung der persönlichen Freiheiten, ein „Nie wieder“ als Staatsräson. Bis heute ist wichtig, dass der Zivilisationsbruch des Holocaust mitgedacht bleibt, damit das Vergangene nicht wieder Gegenwart wird. Ich sage ausdrücklich, dass das für die heutigen Generationen absolut nichts mehr mit Schuld zu tun hat. Trotzdem tragen wir alle Verantwortung für Werte wie Respekt, Toleranz und Zusammenhalt, ohne die dieses Land nie hätte werden können, was es heute ist. Wenn wir denen die Schlüssel zur Macht geben, die diese Werte missachten, machen wir einen historischen Fehler.