"Happier Than Ever"
Billie Eilish: Das zweite Album macht sie noch bedeutender

30.07.2021 | Stand 21.09.2023, 6:16 Uhr
Steffen Rüth

Wenn Billie Eilish über sich nachdenkt und singt, fühlen sich Millionen junger Menschen verstanden. −Foto: Kelia Anne MacCluskey

Die berühmteste und einflussreichste Popmusikerin der vergangenen Jahre legt ihr zweites Album vor. Auf "Happier Than Ever" beschäftigt sich die 19-jährige Billie Eilish intensiv mit ihrem Leben und Wirken – und wird auf grandios unterhaltsame Art am Ende doch nicht ganz schlau aus sich.

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Bis zum 18. Dezember 2021, dem Tag ihres 20. Geburtstags, ist Billie Eilish immer noch ein Teenager. Und als solcher ein hochgradig widersprüchliches Wesen, wie aus den 16 neuen Songs sehr deutlich herauszulesen ist. In den zwei, drei Jahren seit ihrem Debüt "When We All Fall Asleep, Where Do We Go?" hat die neben Greta Thunberg bekannteste Unter-20-Jährige der Welt den Popkosmos in Bewegung gesetzt: Wie keine andere sorgte sie dafür, dass die Streamingdienste heute überquellen von tendenziell traurigen Teenagern, die in ihren Zimmern zu ruhigen Beats aus ihrem Leben erzählen. Doch steht Billie Eilish für viel mehr als ihre Musik, die sie erneut mit ihrem fünf Jahre älteren Bruder Finneas komponiert und aufgenommen hat.

Billie Eilish ist, im tatsächlichen Sinn des Wortes, eine Influencerin, vielleicht die Mächtigste von allen. Nicht nur, dass sie in kurzer Zeit sieben Grammys gewonnen, die Charts beherrscht und den James-Bond-Song "No Time To Die" gesungen (der auf "Happier Than Ever" leider fehlt) hat. Ihr Einfluss reicht meilenweit darüber hinaus. Wenn Billie Eilish über psychische Probleme spricht, dann fühlt sich ein Millionenpublikum verstanden. Und wenn sie sich, nach Jahren in verhüllenden und explizit antiaufreizenden Outfits plötzlich auf dem Cover der "Vogue" mit blondierter Mähne in maßgeschneiderter Gucci-Korsage abbilden lässt, dann gibt es, vor allem im Netz, tagelang kein hitzigeres Gesprächsthema.

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"Manche Menschen hassen, was ich trage, manche preisen es", singt, nein sagt sie im beschwörenden, fast wie ein langes Yoga-Mantra wirkenden Spoken-Word-Stück "Not My Responsibilty". Und fragt die Hörerinnen und Hörer, ob sie es lieber hätten, wenn sie schwiege, um zu dem Schluss zu kommen, dass anderer Leute Ansichten über sie nicht in ihren Verantwortungsbereich fallen. Selbstreflexion, sprich die Beschäftigung des Menschen Billie Eilish Pirate Baird O’Connell mit dem Popsuperstar Billie Eilish, ist das zentrale Thema auf "Happier Than Ever". Und das klingt öder als es ist. Wenn sie über Selbstzweifel und Ängste singt, über Perfektion oder deren Fehlen, über Männer, die sich sexuell unentschuldbar gegenüber jungen Frauen verhalten, wie im klanglich minimalistischen aber an Intensität maximalen "Your Power", dann fühlt man – auch wenn man der Identifikationsgruppe längst entwachsen ist – nichts außer Empathie und Verbundenheit.

Perfekt gelingt es den Geschwistern, Nähe zu schaffen. In "Getting Older", dem introspektiven ersten Song, ist Billies Singen eher ein Murmeln, während sie darüber sinniert, nicht nur mit Druck und Verantwortung klarkommen zu müssen, sondern auch mit dem gelegentlichen Stalker an der elterlichen Haustür. Ja, man hört sie sogar atmen, und zwar schwer. Ohnehin fällt auf, wie zurückhaltend und leise das Album ist. Es zischt nicht so laut wie auf der ersten Platte, der Grundton klingt ein wenig gedimmt.

So tanztauglich, bissig, düster dramatisch und vom Bass-Beat geleitet wie ihre großen Hits "Bury A Friend" und "Bad Guy" wird es nur gelegentlich. "Therefore I Am" und "NDA" kommen den früheren Songs am nächsten. Der Titelsong "Happier Than Ever" greift all die losen Enden des Billie-Eilish-Seins noch einmal auf – und führt sie zwar nicht zusammen, aber auf eine überwältigend epische Weise vor. Erst hört man nur ihre wirklich schöne und wandelbare Stimme zur Akustikgitarre. Dann explodiert die Chose zum Drama, zur Abrechnung mit sich, dem Dödel-Exfreund und allen, die sich angesprochen fühlen von so viel wunderbarer weiblicher Wut. In "Happier Than Ever" kommt es zur finalen Kulmination ihres Kosmos. Einmal Eilish mit allem quasi. Wäre die zweite Hälfte des Songs ein Tarantino-Film, dann hätte niemand überlebt. So geht große Kunst.

Steffen Rüth