Test: Harley-Davidson Heritage Classic 114
Bequem für die lange Tour

06.07.2021 | Stand 06.07.2021, 12:29 Uhr

Ein guter Helm ist eine Lebensversicherung für Motorradfahrer

SP-X/Köln. Nicht weniger als elf Modelle listet Harley-Davidson für seine Tourer auf; rechnet man die unterschiedlichen Triebwerke hinzu, stehen sogar 13 Versionen zur Wahl. Wir haben uns im Test für das preisgünstigste Fahrzeug entschieden, die ab 22.595 Euro erhältliche Heritage Classic, wählten allerdings die stärkere der beiden möglichen Motorisierungen, also den Motortyp Milwaukee-Eight 114. Sein luft- und wassergekühlter V2 realisiert aus stolzen 1.868 Kubikzentimetern Hubraum immerhin 70 kW/95 PS. Der Preis für die Heritage klettert dann freilich auf 23.995 Euro.

Die Heritage Classic gehört zur Softail-Familie. Ihr Rahmenheck sieht so aus, als sei es ungefedert, weil das Zentralfederbein unterm Fahrersitz versteckt liegt. Den Beinamen Classic trägt das durch und durch klassisch auftretende Modell vollkommen zu Recht. Im Gegensatz zu den vollverkleideten Limited-Versionen Ultra und Road Glide beschränkt sich der Windschutz auf einen stabilen, im unteren Bereich eingeschwärzten Windschild; die Unterschenkel von Fahrer und gegebenenfalls Sozia stehen frei im Fahrtwind. Oder auch im Regen. Der leicht abnehmbare, weil an vier Punkten intelligent eingesteckte Windschild der Tourer ist seit langem umstritten. Zwar finden ihn alle stylisch, aber nicht wenige stören sich an den von ihm ausgehenden Turbulenzen am Helm. Sowohl die Länge des Oberkörpers als auch der Helmtyp sind mitentscheidend in der Frage „Hopp“ oder „Top“. Wir waren nicht wirklich glücklich, denn oberhalb von Tempo 100 wummerte es arg am Kopfputz, das Visier geriet in Schwingungen. Um gleich sämtliche weiteren Unvollkommenheiten aufzuzählen: Die Leerlaufsuche im Stand gestaltete sich nervig. Dafür ist die Heritage Classic ein besonders zuverlässiges Motorrad, als dessen größte „technische Schwäche“ sich über 50.000 bei einem Langstreckentest gefahrene Kilometer der Verbrauch von zwei Rücklichtbirnchen herausstellte. Jammern auf allerhöchstem Niveau!

In punkto Zuverlässigkeit gebührt der Heritage Classic 114 also eine glatte Eins; zudem verfügt sie über eine vierjährige Garantie ohne Kilometerbeschränkung. Auch Agilität, Fahrkomfort und die insgesamt leichte Bedienbarkeit konnten bei Tagesetappen von bis zu 600 Kilometern voll überzeugen. Insbesondere darf sich der Antrieb ein Lob abholen: Der fast 1,9 Liter große V2 zieht aus dem Drehzahlkeller bestens und legt zugleich auch noch oberhalb der Drehzahlmitte kräftig zu – hier liegt das maximale Drehmoment von bulligen 155 Newtonmetern an. Zwar erfüllt dann eine mächtige mechanische Geräuschkulisse die Luft, doch klingt das niemals nach Überforderung. In der Praxis ist man selten veranlasst, die 3000er Marke zu überschreiten, denn Kraft ist auch darunter stets im Überfluss vorhanden. Lohn solch niedertouriger Fahrweise ist der niedrige Verbrauch von durchschnittlich 5,45 Litern pro 100 Kilometer. Dieser Wert liegt ungefähr auf Höhe des Normverbrauchs. Angesichts einer sicheren Reichweite von 300 Kilometern weist der 18,9 Liter-Tank ein voll ausreichendes Volumen auf. Wer besonders ausgeglichen tourt, schafft sogar eine 4 vor dem Komma.

Dass die Heritage Classic mit einem Kampfgewicht von 330 Kilogramm antritt, ist weniger beim Spritkonsum als vielmehr beim Rangieren spürbar. Dank der niedrigen Sitzhöhe von lediglich 68 Zentimetern kann man mit den Füßen aber gut arbeiten, denn einen Rückwärtsgang gibt es nicht. Jenseits von Rangiermanövern herrscht unerwartete Agilität vor, nicht zuletzt ein Verdienst der moderaten Reifenbreiten. So lenkt der Sechseinhalbzentner-Brocken leicht ein und selbst in Schräglage sind Korrekturen möglich, sofern die Trittbretter noch nicht am Asphalt kratzen. Der breite, angenehm gekröpfte Lenker lässt sich bestens greifen, so dass man als Fahrer stets das gute Gefühl totaler Kontrolle hat. Der Federungskomfort der Quasi-Starrachsmaschine ist befriedigend. Grobe Stöße werden gut absorbiert, harte Fugen dagegen finden mitunter den Weg ins Kreuz oder auch die Arme des Fahrers. Die einzelne Scheibenbremse im Vorderrad beißt kräftig zu. Sie reicht im Verbund mit der sehr wirksamen Hinterradbremse im Normalbetrieb gut aus.

Die Fahrstabilität der ohne elektronische Assistenzsysteme agierenden Heritage Classic ist gut. Unbedachtes hartes Gasgeben bei Nässe quittiert der Hinterreifen mit zügigem Haftungsverlust. Im üblichen Geschwindigkeitsbereich – wir reden von unter Tempo 140 – verhält sich die Heritage Classic bockstabil. Nähert man sich der Höchstgeschwindigkeit von 175 km/h, wird neben dem tobenden Orkan am Helm mitunter ein ganz leichtes Taumeln um die Längsachse spürbar; diese Erscheinung bleibt aber weit entfernt von aufkommender Mulmigkeit.

Exzellent sind die Ergonomie und damit auch der Sitzkomfort. Der Sitz ist bestens gepolstert und die beiden großen Trittbretter an exakt der richtigen Stelle im exakt richtigen Winkel montiert, so dass die Fahrerfüße vollkommen entspannt für viele Stunden am Stück platziert werden können. Wer schon im Anrollen den Leerlauf einlegt, tut sich leichter. Für leichtes Gepäck bietet die Heritage Classic zwei Seitentaschen mit 43 Litern Volumen. Genügt dieser Raum nicht, lässt sich leicht der Soziussitz demontieren. Dann steht eine ebene Fläche zur Verfügung, auf der sich eine Gepäckrolle bestens verzurren lässt. Um den Lack des Kotflügels zu schonen, hat Harley mit einer Schutzfolie vorgesorgt, eine sinnvolle Sache.

Dass die Heritage Classic im Auslieferungszustand ein wenig zu dezent wirkt, ist beabsichtigt: Die werten Kunden sollen schließlich auf den Kaufpreis von 24.000 Euro noch ein bisschen was drauflegen; es stehen Hunderte von Möglichkeiten zur Aufhübschung bereit. Grund zu viel Freude am Besitz dieses Bikes ist aber auch in der schmucklosen Basisversion gegeben:  Die Heritage Classic ist stimmig, nämlich charaktervoll und ehrlich, dazu segmenttypisch komfortabel und mehr als kräftig genug auch für sehr flottes Cruisen. 

Technische Daten Harley-Davidson Heritage Classic 114
Motor:  Luft- und flüssigkeitsgekühlter 45°-V2 Motor, quer eingebaut, 1868 ccm Hubraum, vier Ventile pro Zylinder, 70 kW/95 PS bei 5.020 U/min., 155 Nm bei 3.250 U/min; Einspritzung, 6 Gänge, Zahnriemen.
Fahrwerk: Doppelschleifen-Stahlrohrrahmen, Oberzug in Backbone-Bauweise; verkleidete 4,9 cm Telegabel vorne, 13 cm Federweg; Dreieckschwinge aus Stahlrohr, Vierkantstahlprofil und Gussformelementen hinten, Zentralfederbein (Vorspannung hydraulisch einstellbar), 11,2 cm Federweg; Drahtspeichenräder; Reifen vorne 130/90 B 16, hinten 150/80 B 16; eine 30 cm Scheibenbremse vorne, 29,2 cm Einscheibenbremse hinten.
Assistenzsysteme: ABS, Wegfahrsperre, schlüsselloses Startsystem, Tempomat, Blinker-Rückstellautomatik.
Maße, Gewichte und Verbrauch: Radstand 1,63 m, Sitzhöhe68 cm, Gewicht fahrfertig 330 kg, Zuladung 196 kg. Tankinhalt 18,9 l; Normverbrauch 5,5 l/100 km, Testverbrauch 5,45 l/100 km
Fahrleistungen: Beschleunigung 0-100 km/h ca. 4,5 sec., Höchstgeschwindigkeit 175 km/h.
Garantie und Wartung: Vier Jahre ohne km-Beschränkung; erster Service nach 1.600 km, dann alle 8.000 km oder jährlich.
Preis: ab 23.995 Euro.