La Réunion – eine Insel wie gutes Ratatouille

11.06.2022 | Stand 21.09.2023, 6:03 Uhr

Am Cap Méchant im wilden Süden zerbersten riesige Wellen an ebenso hohen schwarzen Klippen. Nichts zum Baden, aber wunderschön. −Fotos: Detzel

Wenn das Paradies ein immergrüner Ort ist, an dem herrlichste Früchte wachsen und Menschen jeder Hautfarbe und Religion sich bestens verstehen, dann haben wir es gefunden: auf der Insel La Réunion. Mitten im Indischen Ozean – und doch inmitten der EU.

Die Sinne sind in einem leichten Rauschzustand. Die Nase kann diesen schweren, süßen Duft keiner ihr bekannten Blume zuordnen. Die Augen kommen nicht mehr los von dem Wasserfall, der über eine steile Bergflanke 650 Meter in die Tiefe tost. Und das, was sich nach dem verregneten Frühjahr daheim so fremd auf der Haut anfühlt, ist tatsächlich Sonne.

Seit der Landung in St. Denis ist gerade mal eine Stunde vergangen. So viel ist passiert seither. Da war dieser farbenfrohe buddhistische Tempel. Ein spontaner Halt, weil der Wanderrucksack zuhause vergessen wurde. Doch in dem indischen Laden neben dem Tempel gibt’s alles, sogar Wanderrucksäcke. Nach dem Abbiegen von der Küstenstraße beginnt sie, die andere Welt: Plötzlich ist alles grün, sogar die Berge bis zum Gipfel. Die Regenzeit war heuer besonders heftig, das macht die Wasserfälle nun besonders schön.

La Réunion fordert volle Aufmerksamkeit ab der ersten Minute. Das "andere Europa" ist elf Flugstunden von Paris entfernt. Doch tropische Vegetation hin, Indischer Ozean her: Die Insel zwischen Madagaskar und Mauritius ist Teil der EU. Gezahlt wird in Euro, nirgends liegt Müll, die Straßen sind tiptop. Das Bergdorf Hell-Bourg trägt gar seit 1999 stolz das Label "Schönstes Dorf Frankreichs". Zurecht? Schön ist es in dem früheren Kurort mitten im Cirque de Salazie, einem der drei Talkessel im nördlichen Teil der Inselmitte. Sehr schön sogar.

Bunte Holzhäuser flankieren die Einkaufsstraße. Von überall hat man freien Blick auf den Piton des Neiges, mit 3071 Höhenmetern die höchste Erhebung. Meist ist der Gipfel wolkenverhangen, doch wann immer jemand vom Piton spricht, schwingt Ehrfurcht mit. Er steht im Zentrum dreier aneinander grenzender Talkessel, denen die Insel ihren Ruf als Wanderparadies zu verdanken hat.

Gewandert wird heute nicht. Erst mal ankommen. Die Villa Folio ist dafür genau richtig. Das weiße Holzhaus im Kolonialstil und die Kamelienbäume im tropischen Garten sind gut 150 Jahre alt. Dass das Haus originalgetreu erhalten ist, ist dem Ehepaar Folio zu verdanken. Es gründete in den 1980er Jahren einen Verein zur Rettung kreolischer Häuser – inklusive dem eigenen. Madame Solange Folio lebt noch hier, mitten in ihrem eigenen Museum. Plötzlich, man ist gerade versunken in die Strohhut-Sammlung im Schlafgemach, steht da eine rüstige alte Dame. Braungebrannt, grauer Pagenkopf, bunte Bluse. Freundlich sucht sie den Smalltalk. "Mais oui", sie sei es wirklich, sagt sie. Und erklärt, seit dem Tod ihres Mannes wohne sie alleine hier. Von den sieben Katzen mal abgesehen. Die Tochter lebe an der Küste, und da sei sie froh um die Touristen. "Ohne die wäre mir langweilig", versichert sie.

Sie genießt das Interesse an ihrer Villa und der Geschichte des Bergdorfes, das seinen Aufschwung erlebte, nachdem in den 1830er Jahren Thermalquellen entdeckt wurden. Als Madame Folio erfährt, dass wir Journalisten sind, winkt sie die Gäste resolut in den Salon und holt die Karaffe mit dem selbst angesetzten Rum mit Kräutern und den Blüten der Faham-Orchidee. Ein Zögern lässt sie nicht gelten. "Medizin", sagt sie und schenkt großzügig ein. Na dann. Wirken muss es, dafür ist Madame Folio mit ihren 95 Jahren der beste Beweis. Nebenbei sorgt das Getränk für herrlichen Tiefschlaf, bis früh am Morgen der Wander-Wecker klingelt.



Vor 350 Jahren war die Insel noch unbewohnt


In unendlichen Serpentinen geht es auf den Col de Boeufs. Auf 2000 Metern endet die Straße. Der angrenzende Talkessel von Mafate ist umgeben von einem Kraterrand. Straßenbau unmöglich. Wer von den Bewohnern der neun Dörfer dort unten ein Auto besitzt, der hat es hier oben auf dem Pass geparkt. Mehrere Stunden Fußmarsch von zuhause entfernt. Viele derer, die im Cirque de Mafate leben, sind Nachkommen der Sklaven, die auf der Suche nach Freiheit in die schwer zugängliche Bergregion flohen. Aus Afrika, Indien und Madagaskar waren sie gekommen, um vor allem auf den Kaffeeplantagen der Kolonialherren ausgebeutet zu werden.

Doch die Sklaverei ist seit über 170 Jahren abgeschafft. Heute leben auf Réunion Menschen jeder Herkunft und Hautfarbe friedlich zusammen. Es gibt katholische Kirchen, buddhistische Tempel, und in den Städten ruft der Muezzin vom Minarett zum Gebet. "Ich glaube, das funktioniert bei uns so gut, weil es keine Ureinwohner gibt. Vor 350 Jahren war hier noch Jurassic Park, ohne Menschen. Dann kamen alle gleichzeitig, jetzt sind alle gleich", hat Julie Ferard ihre eigene Theorie über das friedliche Zusammenleben. Doch sie ist Wanderführerin, keine Ethnologin, ihre Religion die Natur.

Bei über 1000 Wanderkilometern auf der Insel ist sie gut gebucht. Im Talkessel von Mafate lässt sich leicht eine Woche von Dorf zu Dorf wandern. Aber mit den deutschen Journalisten im Schlepptau belässt es Julie bei einer Zweitagestour. Heute gut 600 Höhenmeter hinab nach La Nouvelle, morgen wieder hinauf. Unterwegs teilt Julie ihr Wissen um die Pflanzenwelt. 900 Pflanzen und Bäume seien nur auf dieser Insel zu finden. "Das ist alles eine große Apotheke", sagt die 37-Jährige und erklärt die Heilpflanzen, überliefertes Wissen der Sklaven.

Zum Picknick auf einer Wiese unter Tamarindenbäumen gibt es eben geerntete Bananen und Mandarinen. Die kleinen, roten Erdbeer-Guaven wandern direkt vom Strauch in den Mund. Die Pause darf nicht zu lang geraten. Noch ist La Nouvelle nicht erreicht. "Die auf den Schildern angegebene Gehzeit kannst du verdoppeln", hatte Julie gewarnt. Dann ist der 120-Einwohner-Ort erreicht. Eine Grundschullehrerin gibt es und eine Kapelle. Da der Pfarrer jedes Mal den weiten Weg zu Fuß kommt, ist nur alle zwei Wochen Messe. Der Kiosk hat astronomische Preise, da alle Waren der Hubschrauber einfliegt.

Viel braucht es heute eh nicht mehr. Die Wanderunterkunft beinhaltet ein rustikales Abendessen mit Zutaten, die der Garten und Hühnerstall so hergeben. Ein bisschen erinnert es an Alpenvereinshütte. Nur, dass der Blick vom Bett durchs Fenster hinaus in eine Version des Garten Eden geht, an dem man sich nicht satt sehen könnte, wenn es nicht so früh und schlagartig dunkel würde.

Es heißt, die Landschaften auf Réunion seien so vielfältig, dass auf den nur 2500 Quadratkilometern eine Reise um die Welt in wenigen Tagen möglich ist. Die Tour in den Süden der Insel, zum Piton de la Fournaise, führt in der Tat in eine andere Welt. Eine grau-schwarze Mondlandschaft umgibt den Vulkan. Die Schotterstraße führt bis zum Aussichtspunkt am Pass de Bellecombe, direkt gegenüber des Vulkans. Von hier geht es 150 Meter in die Tiefe. Geschützt auf der Abrisskante wohnen die Réunionesen einem Ausbruch in aller Ruhe bei, gerne beim Picknick. Etwa zwei Mal im Jahr bricht der La Fournaise aus. Dann quellen aus den Nebenkratern, die in der Ebene unten so klein aussehen, die Lavamassen. Je dunkler der Boden, desto jünger der Ausbruch. Oder mit den Worten von Tourguide Nicola Cyprien: "Das, was aussieht wie gigantische Ameisenscheiße, ist noch recht frisch." Bei der letzten großen Eruption 2007 ist die Insel um 30 Hektar gewachsen. Der Lavastrom ergoss sich ins Meer. Die Küstenstraße, die dabei zerstört wurde, war nach wenigen Monaten neu gebaut. Über eineinhalb Kilometer Länge führt sie durch das Lavafeld – zwischen den Zuckerohrplantagen nur totes Land.

Es mag merkwürdig aussehen, wie wir mit Helm, Stirnlampe, Knieschonern und Handschuhen ausgerüstet über die zu Basalt erkalteten Lavaströme stapfen. Vor einem Loch im Boden macht der Tourguide Halt. Es ist einer von sieben Eingängen in die Lavatunnel. Ein unterirdisches Wegenetz von sechs Kilometern Länge, entstanden beim Ausbruch 2004. Dort unten sieht es aus wie inmitten eines fest gewordenen Schokoladen-Fondues. Mal sind die Wände glatt wie der Guss einer Sachertorte, mal erinnern sie an Deko-Schokotropfen. So schön es ist, der Lavatunnel wird zur anstrengendsten Wanderung der Reise. Die Hitze und die Luftfeuchtigkeit sorgen für Zustände wie in einem Dampfbad.

Ein Pflichtstopp bei der Fahrt hinaus aus der bizarren Lavalandschaft ist die Kirche Notre-Dame-Des-Laves. Unmittelbar vor dem Gotteshaus teilte sich der Lavastrom und verschonte es. Ein paar Zentimeter floss die heiße Masse durchs Kirchenportal hinein, dann war Schluss. Nun, zum Paradies gehören halt auch Wunder!

250 Kilometer Küste – aber kein Badeparadies

Man wäre nicht im Indischen Ozean, würden die Aktivtage nicht am Strand ausklingen. Und ja, die Wassertemperatur ist prima und die Fische sind so bunt wie die Korallen. Aber ein Badeparadies ist Réunion nicht. Von den 250 Kilometern Küste sind nur etwa 18 Strand. Uns reicht das vollauf.

Zeit für einen Besuch auf dem kreolischen Markt in St. Paul, wo sich die Tische vor Obst und Gemüse biegen. An den Gewürzständen dominiert die Vanille, das "schwarze Gold" von Réunion. Die Marktleute schwärmen von ihrer Insel. Einer bringt es auf den Punkt: "Wir sind auf Réunion wie ein gutes Ratatouille. Sie werfen ganz viele unterschiedliche Dinge in einen Topf, mischen durch. Und am Ende kommt etwas heraus, das einfach wunderbar ist."

Redakteurin Katrin Detzel – hier im Lavatunnel – reiste auf Einladung des Insel La Réunion Tourismusausschusses.

La Réunion liegt im Indischen Ozean, 700 Kilometer von Madagaskar und 200 Kilometer von Mauritius entfernt. Dennoch ist die Insel eine Region Frankreichs und gehört zur EU. Mit 2500 Quadratkilometern ist sie so groß wie das Saarland. 42 Prozent davon sind Unesco-Welterbe.

ANREISEN
Mit der Lufthansa in eineinhalb Stunden von München nach Paris, dann mit der Air Austral in elf Stunden weiter nach La Réunion.

KLIMA
Das Klima ist tropisch, im Schnitt hat es 24 bis 33 Grad, wobei es nachts in den Bergen recht frisch sein kann. Regenzeit ist von Dezember bis März, als beste Reisezeit gilt Mai bis November.

www.insel-la-reunion.com
www.explorereunion.com