Bewaffneter Aufstand
Wagner-Söldner marschieren in Russland ein – Putin will „Verräter“ bestrafen

24.06.2023 | Stand 24.06.2023, 13:21 Uhr

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Wagner, bei einer Videoansprache am Samstag. Seinen Angaben zufolge hat die Söldnertruppe die Kontrolle über russische Militärobjekte in Rostow übernommen. −Foto: Uncredited/Prigozhin Press Service/AP/dpa

Der Machtkampf zwischen Söldnerchef Prigoschin und dem russischen Militär eskaliert. In Moskau wird der Anti-Terror-Notstand verhängt. Putin will die „Verräter“ bestrafen.



Der russische Söldnerchef Jewgeni Prigoschin hat mit seiner Truppe Wagner nach eigenen Angaben wichtige militärische Objekte in Rostow am Don im Süden Russlands besetzt. „Unter unserer Kontrolle befinden sich Militärobjekte Rostows, darunter auch der Flugplatz“, sagte Prigoschin in einem am Samstagmorgen veröffentlichten Video. Er behauptete, in der Stadt in der Grenzregion zur Ukraine kontrollierten seine Kämpfer auch das Hauptquartier der russischen Armee für den Süden des Landes.

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Prigoschin: „Normaler“ Flugbetrieb am Militärflugplatz



Die an der russischen Offensive in der Ukraine beteiligten Militärflugzeuge würden aber „normal“ von dem Flugplatz abheben um ihre Aufgaben zu erfüllen und kein Offizier sei von seinen Aufgaben entbunden worden, erklärte Prigoschin. Prigoschin warf der russischen Armee erneut vor, bezüglich der Lage an der Front zu lügen. Zahlreiche eroberte Gebiete seien bereits „verloren gegangen“ und die russische Armee verliere täglich „bis zu 1000 Mann“, erklärte er.

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Britische Geheimdienste: Söldner-Truppen ziehen nach Norden – wohl mit Ziel Moskau



In sozialen Netzwerken tauchte zudem ein Video auf, das Prigoschin mit Russlands Vize-Verteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow zeigen soll. Darin ist zu hören, wie der Söldnerchef mit einem Vormarsch nach Moskau droht, sollten sich Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow vor ihm verstecken. Nach Erkenntnissen britischer Geheimdienste ziehen Wagner-Einheiten durch das Gebiet Woronesch nach Norden. Ziel sei vermutlich die Hauptstadt Moskau, hieß es in einer Mitteilung in London. Nach Ansicht der britischen Geheimdienste ist der aktuelle Aufstand der Söldnertruppe für den russischen Staat die „größte Herausforderung“ der jüngeren Zeit.

Anti-Terror-Notstand ausgerufen



Angesichts des bewaffneten Aufstands riefen die Behörden in Moskau und Umgebung den Anti-Terror-Notstand aus. „Um mögliche Terroranschläge in der Stadt und dem Gebiet Moskau zu verhindern, ist ein Regime für Operationen zur Terrorbekämpfung eingeführt worden“, teilte das nationale Anti-Terror-Komitee am Samstag mit. Die Sicherheitsvorkehrungen wurden verschärft. Auch in der Region Woronesch im Südwesten an der Grenze zur Ukraine wurde der Notstand verhängt.

Der Anti-Terror-Notstand ermöglicht den russischen Behörden verstärkte Kontrollen und erleichtert Festnahmen. Auch Telefongespräche können vermehrt abgehört werden. Welche Maßnahmen nun aber konkret in Moskau und Woronesch eingeleitet werden sollen, war zunächst unklar. Zuvor hatte bereits Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin „Anti-Terror-Maßnahmen“ verkündet. In der Metropole mit mehr als 13 Millionen Einwohnern seien bereits verstärkte Verkehrskontrollen eingeführt worden, hieß es. In der Nacht waren auch Militärfahrzeuge im Stadtzentrum unterwegs.

Kämpfe in russischem Gebiet Woronesch



In der russischen Region Woronesch rund 600 Kilometer südlich von Moskau führte die russische Armee wegen des Aufstands der Söldner-Truppe Wagner am Samstag Kampfeinsätze aus. Im Rahmen der Antiterrormaßnahmen „führen die Streitkräfte der Russischen Föderation die notwendigen operativen Einsätze und Kampfhandlungen aus“, erklärte Regionalgouverneur Alexander Gussew auf Telegram.

Woronesch liegt etwa auf halbem Weg zwischen Moskau und der südlichen Stadt Rostow, wo die Wagner-Söldner am Morgen die Kontrolle über die dortigen Militäreinrichtungen übernommen habe.

Putin spricht von „Dolchstoß in den Rücken“ Russlands



Russlands Präsident Wladimir Putin sprach nach dem bewaffneten Aufstand von „Verrat“ und rief zur Ausschaltung der Drahtzieher aufgerufen. Die Streitkräfte hätten den Befehl erhalten, die Organisatoren ihrer „unausweichlichen Bestrafung“ zuzuführen, sagte der Kremlchef am Samstag in einer Fernsehansprache an die Nation. Russische Staatsmedien hatten zunächst berichtet, Putin habe von einer „Neutralisierung“ der Drahtzieher des bewaffneten Aufstandes gesprochen. Die Formulierung fiel so allerdings nicht.

Putin sagte, wer Waffen erhebe und bewaffneten Aufstand organisiere, werde bestraft. Der russische Präsident sprach in seiner Rede von einem „Dolchstoß in den Rücken“ Russlands und forderte die Wagner-Kämpfer auf, ihre Teilnahme an kriminellen Handlungen umgehend zu beenden.

Zugleich bestätigte Putin die Blockade wichtiger Objekte in der südrussischen Stadt Rostow am Don durch die Söldnertruppe. „Faktisch ist die Arbeit von Organen der zivilen und militärischen Führung blockiert“, sagte Putin in der vom Staatsfernsehen übertragenen Ansprache ans russische Volk. Über die Lage das an die Ukraine grenzende Gebiet Rostow sagte er: „Sie bleibt schwierig.“ Russland führt seit 16 Monaten einen Angriffskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Dabei gehörten die Wagner-Söldner bislang zu den wichtigsten Truppen.

Wagner-Chef widerspricht Putin: „Wir sind Patrioten“



Wagner-Chef Prigoschin hat bereits auf Putins Rede reagiert. Er warf dem russischen Präsidenten eine Fehleinschätzung der Lage vor. „Der Präsident irrt sich schwer“, sagte Prigoschin am Samstag in einer Sprachnachricht auf seinem Telegram-Kanal. „Wir sind Patrioten unserer Heimat.“

Wagner-Führer: Russland verursachte Tod von zahlreichen Söldnern



Kämpfer von Prigoschins Söldnertruppe Wagner waren nach dessen Worten in der Nacht zum Samstag von der Ukraine aus nach Russland einmarschiert, nachdem der Söldnerchef zum Aufstand gegen die Armeeführung in Moskau aufgerufen hatte. Dabei hätten seine Kämpfer einen Armeehubschrauber abgeschossen, meldete Prigoschin. In Moskau und mehreren russischen Regionen wurden die Sicherheitsmaßnahmen verschärft.

Prigoschin hatte dem russischen Verteidigungsminister Sergej Schoigu am Freitagabend vorgeworfen, Raketenangriffe auf seine Truppen angeordnet zu haben, bei denen zahlreiche Wagner-Söldner getötet worden seien. Die russische Bevölkerung rief er auf, sich seinen Truppen anzuschließen: „Das Böse, das die Militärführung des Landes anrichtet, muss gestoppt werden.“

Prigoschin-Warnung: „Werden alles zerstören“



Seine Truppen würden „alles zerstören“, was sich ihnen in den Weg stelle, warnte der Söldnerführer: „Wir sind alle bereit zu sterben, alle 25.000. Denn wir sterben für das Vaterland, wir sterben für das russische Volk, das man von denen befreien muss, die die Zivilbevölkerung bombardieren.“

Verteidigungsministerium ruft Wagner-Söldner zum Aufgeben auf



Russlands Verteidigungsministerium rief die Söldner der Privatarmee Wagner am Samstag zur Beendigung ihres bewaffneten Aufstands auf. Sie seien von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin in ein „kriminelles Abenteuer“ und die Teilnahme an einem bewaffneten Aufstand reingezogen worden, teilte das Ministerium am Samstag in Moskau mit. „Viele Ihrer Kameraden aus mehreren Einheiten haben ihren Fehler bereits erkannt, indem sie um Hilfe gebeten haben, damit sie sicher an ihre Einsatzorte zurückkehren können“, hieß es. Den Kämpfern und Kommandeuren sei Unterstützung gegeben worden.

„Bitte seien Sie vernünftig und nehmen Sie schnellstmöglich Kontakt mit Vertretern des russischen Verteidigungsministeriums oder den Ordnungsorganen auf. Wir garantieren die Sicherheit aller“, hieß es in der Mitteilung.

Deutschland und USA beobachten Lage



Die Bundesregierung beobachtet die Ereignisse in Russland um die Konfrontation mit den Wagner-Söldnern „aufmerksam“. Dies teilte ein Sprecher der Regierung am Samstag auf Anfrage mit. Vize-Regierungssprecherin Christiane Hoffmann schrieb im Kurzbotschaftendienst Twitter, es sei „sehr interessant“, dass Russlands Präsident Wladimir Putin in einer Ansprache die Lage „mit 1917“ verglichen habe, am „Vorabend der Revolution“ in Russland.

Auch die US-Regierung beobachtete die Entwicklungen nach Angaben eines Sprechers aufmerksam. „Wir verfolgen die Lage und werden uns mit Alliierten und Partnern über diese Entwicklungen abstimmen“, sagte ein Sprecher des Nationalen Sicherheitsrats. Präsident Joe Biden sei informiert. Die rivalisierenden russischen Truppen seien dabei, „sich im Kampf um Macht und Geld gegenseitig zu zerfleischen“, kommentierte der Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kyrylo Budanow.

Regierungskritiker ruft zur Unterstützung von Söldner-Truppe auf



Der bekannte russische Regierungskritiker Michail Chodorkowski rief die Russen derweil auf, Prigoschin in seinem Kampf gegen die Armeeführung zu unterstützen. „Wir müssen jetzt helfen, und dann werden wir diesen (Mann) wenn notwendig ebenfalls bekämpfen“, schrieb der Kreml-Kritiker in der Nacht zum Samstag in Onlinemedien. „Selbst der Teufel“ verdiene Unterstützung, wenn er gegen „dieses Regime“ kämpfe. „Und Ja - dies ist erst der Anfang“, schrieb der im Exil lebende Chodorkowski.

Die zu einem beträchtlichen Teil aus russischen Gefängnissen rekrutierten Wagner-Söldner spielten in den vergangenen Monaten vor allem bei dem langwierigen und verlustreichen Kampf um die Stadt Bachmut in der ostukrainischen Region eine wichtige Rolle.

Gleichzeitig entwickelte sich Söldner-Chef Prigoschin - frustriert über Nachschubprobleme und nach seinen Angaben mangelnde Unterstützung durch Moskau - zu einem der vehementesten Kritiker der militärischen Führung Russlands. Immer wieder attackierte er Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow.

− afp/dpa/cav