Obwohl der Eingriff oft zu schweren gesundheitlichen und psychischen Problemen führt, werden in Sierra Leone die meisten Mädchen beschnitten. Das soll sich ändern. Doch der Kampf gegen die archaische Tradition erfordert Mut und einen langen Atem.
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„Ich mache es, weil wir es immer getan haben. Und weil es getan werden muss. Nur so kann man die Lust der jungen Frauen kontrollieren. Nur so werden sie ihren Männern treu sein.“ In einem nur über eine schmale Piste zu erreichenden Dorf im Dschungel Sierra Leones spricht Hawraa Koruma ohne jedes Unrechtsbewusstsein darüber, dass sie Mädchen die Klitoris und Teile der Schamlippen abschneidet. Ohne Betäubung und jegliche medizinische Ausbildung, dafür aus tiefer Überzeugung. Vielen Mädchen hat sie damit große Schmerzen zugefügt, trotzdem wird der archaische Brauch in Sierra Leone kaum in Frage gestellt.
„Ich schneide ja nicht viel ab“, sagt Beschneiderin Hawraa Koruma verharmlosend. „Und sobald es geschafft ist, schlachten wir ein Huhn oder sogar eine Ziege. Wir essen gut und dann singen, tanzen und feiern wir“, sagt die kräftige Frau mit den schlanken Fingern und fängt vor ihrer Hütte an, laut zu singen und sich im Rhythmus des fröhlichen Liedes um die eigene Achse zu drehen. Sofort stimmen die anwesenden Frauen und Mädchen fröhlich in den Gesang der im Dorf hoch geachteten Frau ein. Übersetzt lautet der Text: „Es ist ein Geschenk, ein Kind zur Welt bringen zu dürfen. Du bist jetzt reif dafür, ein Baby an Deine Brust zu legen.“ Normalerweise stimmt die Beschneiderin das Lied an, wenn sie glaubt, ein Mädchen durch die Verstümmelung zur Frau gemacht zu haben.
Narben bereiten Frauen ein Leben lang Probleme
Dass die Mädchen dann meist noch viel zu jung sind, um ein Kind zu bekommen und dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie nach der Beschneidung ein erfülltes Sexualleben, eine unkomplizierte Schwangerschaft und eine sichere Geburt erleben werden, rapide sinkt, spielt für die Beschneiderin, die nie eine Schule besucht hat und nicht weiß, wie alt sie ist, keine Rolle. Dabei haben wissenschaftliche Untersuchungen immer wieder ergeben, dass die Beschneidungsnarben vielen Frauen nicht nur während der Menstruation, beim Urinieren, beim Sex und bei der Geburt höllische Schmerzen bereiten und dass weltweit jedes Jahr Tausende Mädchen beim Eingriff verbluten oder Jahre später bei der Geburt an den Folgen sterben. Da die meisten Beschneiderinnen über keinerlei medizinische Ausbildung verfügen, kaum Ahnung von weiblicher Anatomie und Hygiene haben und oft dasselbe Messer oder dieselbe Rasierklinge verwenden, besteht zudem die Gefahr, dass sie so HIV, Hepatitis und andere Krankheiten übertragen.
Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation wurden weltweit rund 200 Millionen heute lebende Frauen Opfer der weiblichen Genitalverstümmelung. Vor allem in 30 afrikanischen, asiatischen und arabischen Ländern wird die brutale Praxis nach wie vor praktiziert. Sierra Leone ist eines von weltweit nur fünf Ländern, in denen der Eingriff nicht verboten ist. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind in dem kleinen westafrikanischen Staat rund 86 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren genitalverstümmelt. Die Zahlen stammen aus dem Jahr 2017, dürften sich aber seither kaum verändert haben.
„Unbeschnittene Tochter kann man nicht verheiraten“
Denn die alte Tradition in Frage zu stellen, käme einem Verrat an der eigenen Kultur, am eigenen Glauben, an der eigenen Familie und damit einem Verrat an allem, was in Sierra Leone wichtig ist, gleich. Meist berufen sich die Beschneiderinnen auf den Koran, dabei fordert keine einzige Sure der heiligen Schrift des Islams die Verstümmelung der weiblichen Genitalien. Für Hawraa Koruma, die ohnehin nicht lesen kann, was im Koran steht, ist nebensächlich, was in der Heiligen Schrift steht – oder auch nicht. „Eine unbeschnittene Tochter kann man nicht verheiraten. Schon alleine deshalb muss sie beschnitten werden“, sagt Hawraa Koruma. Sie erzählt, dass kein einziges Mädchen, an das sie mit einem Messer oder einer Rasierklinge Hand angelegt hat, zu Schaden gekommen oder gar gestorben sei.
Im Gegenteil! Die Mädchen seien stolz gewesen, als sie in Begleitung ihrer weiblichen Verwandten früh morgens in den Dschungel geführt worden seien. Unter einem Baum, der so weit vom Dorf entfernt ist, dass man dort nicht mehr die Schreie der Mädchen hören konnte, hatte sie schließlich ihr Tuch auf dem Boden ausgebreitet, den Mädchen die Beine gespreizt und sie unter äußerst unhygienischen Verhältnissen mit dem Schnitt in die Gemeinschaft der Frauen aufgenommen. Die Wunden versorgte sie anschließend mit einer traditionellen Medizin, die sie selbst aus Blättern und Wurzeln hergestellt hatte.
Da die rituelle Aufnahme in die Gemeinschaft der Frauen den allermeisten Mädchen und Frauen in Sierra Leone überaus wichtig ist, ist es auch für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von MoPADA, der Partnerorganisation der Welthungerhilfe in Sierra Leone, schwierig, etwas gegen die vor allem in ländlichen Gebieten extrem weit verbreitete Praxis zu sagen. Es erfordert Mut und einen langen Atem. Einheimische Aktivistinnen versuchen unterdessen, alternative Initiationsriten einzuführen, bei denen die Mädchen körperlich unversehrt bleiben.
Beschneiderin Hawraa Koruma hat das blutige Handwerk von ihrer Großmutter erlernt und möchte es allen beibringen, die es lernen wollen. Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie wenig davon hält, die archaische Tradition aufzugeben. Die Beschneiderin: „Der Schnitt hat noch keinem Mädchen geschadet.“
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