Röhrnbach
Was Covid mit Polio verbindet

Vor 60 Jahren war Kinderlähmung die Schreckenskrankheit – Betroffene sehen die Parallelen

05.02.2021 | Stand 21.09.2023, 23:31 Uhr

Kurt Bauer in seinem Spezialfahrzeug, das er trotz der Einschränkungen durch die Polio -Erkrankung fahren kann. Es ermöglicht ihm auch die Fahrdienst-Einsätze, die er als gute Abwechslung schätzt, solange es ihm möglich ist. −Foto: Löw

Es ist 60 Jahre her, aber diese Bilanz einer Epidemie könnte – abgesehen vielleicht von den Monatsangaben – fast identisch auch gestern in der Zeitung gestanden haben: "In der ersten Jahreshälfte zeigte die Häufigkeit der Fälle eine auffallende Tendenz. Im Januar waren sechs, im Februar zwei und im März waren gar keine Erkrankungen aufgetreten; im April drei, im Mai wieder keine und im Juni 15. Jetzt steigt die Kurve steil an auf 62 im Juli, 69 im August, 76 im September, 59 im Oktober. Im November gab es bis jetzt nur noch 16 Erkrankungen." Nein, es geht in diesem PNP-Bericht vom 29. November 1960 nicht um eine Statistik zur aktuellen Corona-Lage. Damals war es die Kinderlähmung, die als Viruserkrankung die Region in Angst versetzte.

Von Polio – gemeinhin Kinderlähmung genannt – waren damals in der Region vor allem Kleinkinder, Kinder im Vorschulalter und im Schulalter bis zu etwa 14 Jahren betroffen. Die Krankheit war eine andere, aber auch hier war die Lunge betroffen, eine weitere Parallele zu Covid von heute, wie Ludwig Bauer von der Polio-Selbsthilfegruppe des Landkreises hinweist. Auch er war damals eines der betroffenen Kinder, genau wie Kurt Bauer. Als Dreijähriger musste dieser damals in die sogenannte "Eiserne Lunge" und sein Foto war in dem genannten Zeitungsbericht von damals veröffentlicht.

Es sei wohl in der Tat eine ähnliche Situation wie heute gewesen, sagen die beiden Betroffenen. Und auch damals war die Schwere der Erkrankung zumeist für die Erwachsenen noch folgenreicher als für die Kinder. Im PNP-Bericht aus dem Jahr 1960 heißt es, dass 15 Prozent der Fälle Erwachsene betrafen und "von den 308 Erkrankungs- und berechtigten Verdachtfällen wurden 27 mit Atem- und Schlucklähmung ins Krankenhaus gebracht. Zwölf Menschen fielen der Kinderlähmung zum Opfer; die Erwachsenen sind hier weit in der Überzahl." Die Todesrate lag demnach bei drei Prozent.

Die Impfung war auch damals ein Problem

Auch damals ging es – genau wie heute mit Corona – schon um die Impfung. Denn die Frage: "Waren unter den Erkrankten auch geimpfte Personen?" beantworteten die Ärzte damals mit Ja. Aber bei fast allen gingen die Lähmungen fast vollständig zurück. Von einem "trostlosen Desinteresse" an der Impfung wurde damals berichtet, das habe sich nach der Häufung der Fälle aber ins Gegenteil verkehrt, so dass zeitweise kein Polio-Impfstoff mehr zu bekommen war.

Zur Behandlung der Erkrankten waren damals sechs "Eiserne Lungen, ein Spiromat, ein Poliomat und ein Schaukelbett ständig in Betrieb", hieß es in PNP-Bericht. Das Passauer Infektionskrankenhaus hatte drei Eiserne Lungen, davon zwei amerikanische, als Leihgabe aus München erhalten. Die amerikanische Armee hatte den Transport teils mit Hubschraubern übernommen.

Kurt Bauer: Ein Betroffener blickt zurück

Einer der kleinen Patienten, die damals dank so einer Eisernen Lunge die Polio-Erkrankung überlebt haben, ist Kurt Bauer aus Röhrnbach. Im Mai 1959 wurde er geboren, im Herbst 1960 erkrankte er. Erinnern kann er sich heute nicht mehr an diese Zeit im Krankenhaus, auch seine Eltern hätten nie darüber gesprochen. Von seinen älteren Brüdern – Kurt Bauer hat neun Geschwister – weiß er aber, dass er fast zwei Jahre lang wegen der Polio im Krankenhaus war. Mit dreieinhalb oder vier Jahren sei er dann wieder nach Hause gekommen und konnte trotz der Lähmung eines Beins, das noch dazu um vier cm kürzer war als das andere, eine fast normale Kindheit erleben, sagt Kurt Bauer heute: "Mein Vater hat zu meinen Geschwistern immer gesagt: ,Nehmt‘s den Kurt mit...‘"

So hat er nach der Schule eine Lehre als Einzelhandelskaufmann absolviert, ist mit 17 Jahren schon Vater geworden und mit seiner Frau heute noch immer glücklich verheiratet, wie er schmunzelnd verrät.

Dass er als Kleinkind Anfang der 1960-er Jahre noch nicht gegen Polio geimpft wurde, das habe wohl auch daran gelegen, dass man in der BRD damals das Angebot von russischen Impfstoffen, die es bereits in der DDR gab, abgelehnt habe, sagt Kurt Bauer. "Vielleicht hätte mir und vielen anderen Betroffenen damit einiges erspart werden können", resümiert er, aber ganz ohne Verbitterung. Trotz aller Einschränkungen kann er heute ein gutes Leben führen. Zwar musste er Anfang der 1980-er Jahre im Alter von 23 Jahren an der Wirbelsäule operiert werden. Wegen des Post-Polio-Syndroms, einer Spätfolge der Krankheit, wurde die Wirbelsäule versteift. Durch deren Verkrümmung waren die Lunge und der Magen betroffen, Kurt Bauer hat schwer Luft bekommen und konnte kaum mehr etwas essen. "Aber das hat sich danach sehr verbessert", ist er froh. So konnte er später sogar wieder im Büro arbeiten, aber mit 46 Jahren ging er dann doch in Rente. Heute aber kann Kurt Bauer stundenweise im Betrieb von seinem Sohn und der Ehefrau Taxi fahren – und ist froh darüber.

Aufgrund seiner Lebensgeschichte versteht Kurt Bauer angesichts der aktuellen Corona-Situation vor allem die Skepsis gegenüber den Impfungen nicht. Zumal auch erst ein Freund von ihm mit 63 Jahren an einer Corona-Infektion verstorben ist.

Die Spätfolgen betreffen fast alle

Gegen Polio geimpft war in den 1950-er Jahren auch Selbsthilfegruppen-Vorsitzender Ludwig Bauer nicht (übrigens trotz des gleichen Nachnamens nicht verwandt mit Kurt Bauer). Bereits 1955 erkrankte Ludwig Bauer als damals Siebenjähriger an Polio und ihm sind die Parallelen zur heutigen Coronapandemie aufgefallen: hohe Infektionsgefahr, Lähmungen bzw. Todesfälle, Impfung usw., sagt er. Auch er hatte mit der Lähmung beider Beine und Teillähmung der Bauch- und Rückenmuskulatur zu kämpfen und leidet nun seit ca. zehn Jahren an den Spätfolgen (Post-Polio-Syndrom) – ebenso wie die rund 30 Mitglieder der Polio-Selbsthilfegruppe Bayerwald, die er seit neun Jahren leitet. Sie umfasst auch die Landkreise Passau (sechs Mitglieder) und Regen (zwei Mitglieder).

Dass die Parallelen von Polio und Covid nun hoffentlich bald nicht nur im Negativen, sondern mit den Corona-Impfungen auch Positiven weitergehen und damit die Krankheit besiegt werden kann, das hofft wohl nicht nur Ludwig Bauer.

Info: Polio Selbsthilfegruppe Bayerwald, Gruppensprecher Ludwig Bauer, Freyung, ✆ 08551/4613, franzludwig.bauer@t-online.de