Ruhstorf/Mariupol
Was Mila und Olga dem Krieg entgegensetzen

Wie aus Flucht und Zuflucht ein kleines Netzwerk zur Unterstützung von Menschen in der Ukraine entstanden ist

22.04.2022 | Stand 20.09.2023, 22:25 Uhr

Zufluchtsort Reiserfeld: Olga Sokolova (links) ist aus Mariupol geflohen und bei Mila Höpfl und deren Familie untergekommen. Die 44-Jährige stammt aus Kiew und lebt schon lange in Deutschland. Eine Freundin hat sie gebeten, die Tante aufzunehmen. Da hat Mila Höpfl nicht lange überlegt. Die beiden Frauen unterstützen ihre Verwandten und Freunde in der Ukraine. −Fotos: Keller/red

Der Krieg hat Mila Höpfl zur internationalen Netzwerkerin gemacht. Die 44-Jährige ist in Kiew geboren, für sie fühlen sich die Schreckensberichte aus der Ukraine an wie Lokalnachrichten – auch wenn die Altenpflegerin schon seit 1998 in Deutschland lebt, 15 Jahre davon im Ruhstorfer Ortsteil Reiserfeld. Als die Flüchtlingswelle begann, schickte sie sich an, auf dem idyllisch gelegenen Hof Platz für einen Teil ihrer großen Verwandtschaft aus der Ukraine zu machen. Aber keiner kam. Die Angehörigen flohen von Kiew aufs Land, wo sie kurzerhand in einer Schule unter Federführung von Milas Cousin eine private Hilfsaktion für Soldaten und Geflüchtete aufzogen. Mila Höpfl schickte Geld und wurde damit Teil des "Business", wie ihr Cousin das organisierte Packen von Lebensmittelpaketen nennt.

Und weil Frauen von Haus aus Netzwerkerinnen sind, ist das große Zimmer der kürzlich ausgezogenen Tochter auf dem Hof der Höpfls nicht leer geblieben. Seit knapp drei Wochen lebt Olga Sokolova mit Mila, Ludwig und dem 14-jährigen Philipp Höpfl zusammen. Mila hat nicht lange überlegt, als eine Freundin sie fragte, ob sie deren Tante aus Mariupol aufnehmen kann. "Natürlich helfe ich meinen Landsleuten", sagt die 44-Jährige.

Verwandte besorgen Essen für Soldaten und Geflüchtete

Mila Höpfl hilft materiell und ideell. Bei einem vom Neuhauser Bürgermeister Stephan Dorn organisierten Treffen von Ukraine-Flüchtlingen fungierte sie als Übersetzerin. Ihren Verwandten ließ sie 800 Euro zukommen. Die 500 Euro aus ihrer eigenen Kasse stockte der Frauenbund Hader um 300 Euro auf. Mit Unterstützung von Hans Wenzl aus Pfalsau, der in der Ukraine eine große Landwirtschaft betreibt, konnte sie das Geld in den Kreis Winniza in der Ukraine transferieren. "Das Geld wird komplett fürs ,Business‘ verwendet", versichert Mila Höpfl. Die 800 Euro seien eine Riesenhilfe für das Dorf. "Denn dort hat so gut wie niemand mehr Geld." Der Betrag sei komplett für die Beschaffung von Lebensmitteln verwendet worden. Den ganzen Tag werde gekocht, um die Lebensmittelpakete für Soldaten und Geflüchtete bestücken zu können. Beschriftet werden die Kartons mit Angaben über den Inhalt, mit Durchhalte- und Motivationsparolen.

Haus in Mariupol zerbombt

Olga Sokolova ist aus Mariupol geflohen. Mehrere Versuche waren gescheitert, bevor es der 58-Jährigen am 21. März gelang, mit einer Nachbarin die umkämpfte Hafenstadt zu verlassen. Die Ärztin lacht, als sie erzählt, dass die beiden Frauen noch einen frisch gebrühten Kaffee tranken, bevor sie sich mit kleinem Gepäck und großer Todesangst auf den Weg machten. "Wir haben es mit Weinen probiert, aber zu lachen ist einfacher", unterbricht Mila Höpfl kurz die Erzählung von Olga Sokolova. Trauer, Hoffnungslosigkeit und Angst dürfen nicht die Oberhand gewinnen – da sind sich die beiden Frauen einig.

Das 42-Parteien-Haus, in dem Olga Sokolova lebte, brannte bei einem Raketenangriff am 6. März aus. Wasser zum Löschen gab es nicht. Mit den anderen Hausbewohnern versteckte sich Olga Sokolova im Keller. Zum orthodoxen "Butterfest" Masleniza wagte sie sich am 7. März nach draußen, um auf einer provisorischen Feuerstelle nach alter Tradition Pfannkuchen mit viel Butter zuzubereiten. Ukrainische Soldaten, die vorbeikamen, rieten zur schnellen Flucht. Sie warnten: Menschenansammlungen würden mit Bomben angegriffen.

Acht Tage dauerte die Flucht nach Polen

Ihr Sohn, der in den USA lebt, habe sie schon vor den Bomben- und Raketenangriffen der Russen angefleht, das Land zu verlassen, berichtet Olga Sokolova. Aber alles einfach zurücklassen?! Das konnte sie nicht, obwohl sie alleinstehend ist. Vor den selbst erlebten Bombardements hätte sie sich nie die Zerstörungskraft der Kriegsmaschinerie vorstellen können, bekennt sie. Ihr Herzblut hängt nach wie vor an der eigenen Praxis für viszerale Chiropraktik und craniosakrale Therapie, die die Gynäkologin und Allgemeinärztin ganz in der Nähe des zerstörten Theaters in Mariupol betrieb. Ob das Gebäude mit ihrer Praxis noch steht, weiß sie nicht.

Acht Tage dauerte die Flucht bis zur polnischen Grenze. Erst zu Fuß, dann über eine Mitfahrgelegenheit in der Nacht über Feldwege ohne Licht. "Während der Flucht war ich ein Roboter", sagt Olga Sokolova. An der polnischen Grenze empfing sie ihr Sohn, der aus den USA nach Budapest geflogen war und dort einen Mietwagen genommen hatte. Als er sie umarmte, habe sie "alles realisiert". Von Budapest aus brachte der Sohn die Mutter nach Tschechien zu Mila Höpfls Freundin und schließlich nach Reiserfeld.

Deutsch lernen, und zwar ganz schnell

"Erst durfte ich die Umarmung meines Sohnes spüren und dann die warme Umarmung von Mila in Deutschland", ist Olga Sokolova dankbar, dass ihr trotz allen Leids ein Stück Glück vergönnt ist. Begeistert zeigt sie ihre "Mitgift", wie sie die erhaltenen Kleidungsstücke und Einrichtungsgegenstände nennt. Die stammen von Milas Freundinnen und von Arbeitskolleginnen aus den Passauer Caritas-Donauhof-Werkstätten, wo die 44-Jährige als Altenpflegerin arbeitet. "Hier ist die Schule", sagt die 58-Jährige auf Englisch und deutet auf die Couch, wo ein Deutschbuch und Karteikarten liegen. Sie will Deutsch lernen. So schnell wie möglich. Zu gerne möchte sie arbeiten, hofft, dass das trotz der Sprachbarriere möglich ist. Weiter denkt sie momentan nicht. Sie träumt davon, nach Mariupol zurückzukehren, "aber nur, wenn die Stadt in ukrainischer Hand ist". Unter der Herrschaft der selbst ernannten "Friedensbringer" aus Russland würde Mariupol nie wieder aufgebaut, prophezeit die Ukrainerin. Da müsse man sich nur mal das 2014 zerstörte Donezk anschauen.

Unterstützung von den Hubertusschützen Hader

Am Ostersonntag hat Olga Sokolova erfahren, dass mehreren Nachbarn die Flucht aus Mariupol gelang, darunter einem Paar mit ihrem Baby. "Vor Freude hat sie getanzt", erzählt Mila Höpfl. Doch solche Momente währen nur kurz. Fortlaufend verfolgt Olga Sokolova die Nachrichten, hofft auf gute Botschaften über die sozialen Medien. Aber so gute Nachrichten wie am Ostersonntag gibt es selten. Sie zeigt Bilder von Toten auf den Straßen Mariupols, die ihr Freunde geschickt haben. Von ihnen hat sie erfahren, dass die Leichen von russischen Soldaten mit Radladern eingesammelt und in 13 mobilen Krematorien verbrannt worden sein sollen, "damit nicht noch einmal Bilder wie aus Butscha um die Welt gehen".

Obwohl Olga Sokolova selbst noch Hilfe braucht, will sie nun auch helfen. Sie möchte ihre Nachbarn unterstützen, die es am Ostersonntag aus Mariupol herausgeschafft haben. Eigenes Geld hat sie gerade nicht. Aber Mila Höpfl ist da was eingefallen: Die Hubertusschützen Hader haben für die private Hilfsaktion der Ukrainerin gesammelt. Es braucht eben Netzwerke.