Tschechien
Viel Nebel im Altvatergebirge

12.01.2018 | Stand 19.09.2023, 23:51 Uhr
Sascha Rettig

Wilde Natur und zahlreiche Wintersport-Möglichkeiten locken Touristen in das tschechische Mittelgebirge. − Fotos: Rettig

Alois Nebel gibt es eigentlich nicht, und trotzdem steigt er in Ramzová in den Zug. Mit seiner jahrzehntealten Bahnuniform, dem getrimmten Schnurrbart und der markanten Brille scheint der fiktive Bahnwärter geradewegs der gleichnamigen Graphic Novel entsprungen. Während der Zug durch die winterromantische Natur des tschechischen Altvatergebirges rattert, steht der menschgewordene Alois im Abteil und erzählt.

Dabei geht es aber weder um die Geschichte des tschechischen Comic-Erfolgs oder dessen Inhalt mit der Sudetendeutschen-Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg in dieser Gegend. Noch berichtet er von der Verfilmung, die sogar mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet wurde, oder den zahlreichen Drehorten, die man entlang der Bahnstrecke aufsuchen könnte. Nein, als Bahnangestellter berichtet er natürlich von der Bahn. "1887 wurden die Gleise verlegt, als Handelsverbindung nach Polen", sagt Alois. Durch ein enges Tal, dichte Wälder und kleine Städtchen führt die Strecke, entlang eines malerisch plätschernden Flüsschens und hoch über den Ramsauer Pass, wo mit Ramzová die höchste Bahnstation Tschechiens liegt.

In Bílý Potok steigt Alois wieder aus. Wie den Bahnwärter selbst gibt es auch diesen Ort nur in den Comics. In Wirklichkeit heißt er Horní Lipová. Auch Alois klärt auf, dass er zwar selber mal Bahnangestellter war, sogar genau hier, aber eigentlich Petr heißt und nur ab und zu in die Nebel-Rolle schlüpft. "Am Abend müsst ihr mal den Fernseher einschalten – ich bin in einer Survival-Reality-Show dabei, die im Urwald auf den Philippinen gedreht wurde", sagt er zum Abschied.

Die melancholische Eisenbahner-Ballade "Alois Nebel" aus dem Sudetenland hat nicht nur den Blick vieler Tschechen auf die lange Zeit dünn besiedelte Region des Altvatergebirges und dessen schmerzvolle Historie verändert. Außerdem half die Popularität bei der touristischen Entdeckung. Viele Hotels und Pensionen sind seither entstanden oder wurden aufgerüstet.

Trotzdem ist diese Mittelgebirgsregion nahe der polnischen Grenze noch so etwas wie ein Geheimtipp mit wilder Natur und im Winter vielen Möglichkeiten zum Wintersport, bei dem man die deftigen Mahlzeiten aus Wild, Knödeln und Bier wieder abtrainieren kann. Familien zieht es etwa in das moderne Resort Kraličák – für Abfahrt, Langlauf, Schneeschuhwandern oder Spaßdisziplinen wie Snow-Tubing. Dolní Morava hingegen bietet mehr als zehn Kilometer Piste, Entspannung im schicken Wellness-Hotel Vista und mit dem Skywalk eine ungewöhnliche verknäuelte Aussichtsplattform hoch oben auf dem Berg.

Auch beim Langlaufen mit Guide David Kobza schweift der Blick immer wieder durch Naturpanoramen und auf den Altvater, den Praděd, der mit 1491 Metern der höchste Berg der Region ist. Im Winter kann man im Jeseníky-Gebirge auf rund 340 Kilometern gut gepflegter Loipe langlaufen. "Früher lebten hier viele Deutsche, aber nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie vertrieben", erklärt der 33-Jährige mittags in der Schweizer Hütte. "70 bis 80 Prozent der Dörfer waren plötzlich verlassen und mussten erst wieder besiedelt werden." Manche Dörfer wurden ganz vergessen.

"Willkommen in Stillstand!", ruft Tomas Hradil in einem dieser Dörfer zur Begrüßung. Stillstand existiert zwar seit fast 70 Jahren nicht mehr – hat aber trotzdem einiges zu erzählen. "Die verlassene Gegend ist für mich wie ein Vorhang, hinter dem sich eine spannende Geschichte verbirgt", sagt Tomas, der seit knapp zwei Jahren mit seiner Frau in dem verlassenen Ort lebt. Viele Gebäude wurden nach der Vertreibung in Brand gesetzt. "Durch die Zerstörung der Häuser sollte wohl auch der dunkle Teil der deutsch-tschechischen Geschichte ausradiert werden – das sollte helfen zu vergessen", sagt der 44-Jährige, der den bewussten Nebel über der Vergangenheit vertreiben will.

Zwischen kleinen Entdeckungen wie Stillstand und täglichem Wintersport gibt es viele Möglichkeiten zu entspannen: im Thermalbad etwa oder bei einem Lebensgeister hochjagenden Priessnitz-Heilbad im Spa, das nach dem berühmten Hydrotherapeuten benannt ist.

Oder man lässt den Tag bei einer Absinth-Probe in der "Bairnsfather Destillery" ausklingen, bei der auch Hollywoodstar Johnny Depp schon mal Kunde war. Der Betreiber ist Kyle, ein Amerikaner, den es vor mehr als zehn Jahren ins Altvatergebirge verschlug. Er blieb, weil er die ehrliche Art der Tschechen hier mag. Und ihren Humor. In seinen Absinth- und Schnapskreationen steckt heimische Natur: Das Wasser kommt aus der Bergquelle, die Pflanzen und Kräuter, die größtenteils hinter dem Haus wachsen, werden im Alkohol verarbeitet.

Ob es am Hochprozentigen liegt? Statt der grünen Fee, die nach zu viel Absinth angeblich gern mal erscheint, taucht am Abend in der Pension bizarrerweise plötzlich Alois Nebel auf dem Bildschirm auf und sitzt mit freiem Oberkörper im philippinischen Dschungel. Ach ja, die Reality-Show!

Sascha Rettig arbeitet als freier Journalist in Berlin. Seine Reise wurde unterstützt von Czech Tourism.