"Saunah dran, dass alles den Bach runtergeht"

Mirjam Herrmann besetzt Bäume – und will damit für mehr als nur Klimaschutz kämpfen

12.05.2021 | Stand 20.09.2023, 22:58 Uhr

"Klimaschutz und Wohlstand lassen sich vereinbaren", sagt Mirjam Herrmann, "wenn man Wohlstand nicht mit Geld gleichsetzt". Sie fordert nicht nur Klimaschutz, sondern einen Systemwechsel. −Foto: Ströbl

Seit vergangener Woche kommt man nicht mehr an ihnen vorbei – den Passauer Baumbesetzern. Über eine Woche haben sie Rathaus, Einsatzkräfte und Medien auf Trab gehalten und dabei sowohl Zuspruch, als auch Ablehnung durch die Passauer Bevölkerung erfahren. Doch wer sind die Menschen, die auf Bäume steigen, um für das Klima zu kämpfen?

Zu ihnen gehört Mirjam Herrmann. Sie ist 23 Jahre alt, geboren in Wuppertal. Nach einem Zwischenstopp in Linz kam sie 2017 nach Passau, um hier deutsches und britisches Recht zu studieren.

Ihr Elternhaus beschreibt sie als chaotisch, aber sehr liebevoll. "Bei uns ist immer was los", erzählt sie. "Ich habe fünf kleine Geschwister und hatte sehr früh sehr viel Verantwortung." Oft war sie für ihre Geschwister wie eine Mutter, sagt sie. Politisch war ihre Familie nicht, "das bringe eher ich in den Haushalt". Woher hat sie also dieses Engagement?

Das Ziel dahinter: Einen Dialog anstoßen

"Das war ein schleichender Prozess", sagt sie. "Kurz vor dem Abitur hat das angefangen." Ich habe tagespolitische Nachrichten verfolgt und mich dadurch politisiert." In dieser Zeit diskutierte sie, wie sie sagt, erstmals richtig mit Menschen. Nach der Schule entschied sie sich, für ein Freiwilligenprojekt und ging ein Jahr nach Tansania. Eine prägende Erfahrung. Dabei habe sie stets die Zusammenhänge zwischen Politik und Wirtschaft im Auge gehabt: "Jeder positive Prozess, der angestoßen wurde, ist wegen wirtschaftlicher Interessen im Sande verlaufen." Ein Umstand, der sie auch heute noch auf die Straße treibt.

Als Corona im letzten Jahr das Leben zum Stillstand brachte, hatte Mirjam Herrmann viel Zeit zum Nachdenken. Und nicht nur das. Irgendwann sah sie eine Netflix-Doku mit dem britischen Dokumentarfilmer David Attenborough. Er erzählte, wie sehr sich die Welt allein während seiner 90 Lebensjahre verändert hat. "Man konnte richtig spüren, wie die Veränderung exponentiell schneller wurde. Ich hab das gesehen und dachte mir: Krass, wir sind saunah dran, dass alles den Bach runtergeht." Noch viel schlimmer als diese Erkenntnis, sagt Mirjam Herrmann, wäre es aber, hinterher sagen zu müssen "Verdammt, hätte ich mal was getan". Von diesem Zeitpunkt an engagierte sie sich in verschiedenen Gruppierungen wie "Fridays for Future", "Extinction Rebellion" und "Ende Gelände". Auch in den Dannenröder Forst fuhr sie mit. "Wenn Forderungen keine Beachtung finden, darf Aktivismus nicht beim Gespräch aufhören", findet Mirjam Herrmann. Auch und gerade deshalb gehe es bei der Baumbesetzung um Aufmerksamkeit. Doch nicht nur das, wichtiger sei der Dialog, der dabei entsteht: "Das Klimacamp besteht aus vielen verschiedenen Organisationen wie Fridays for Future, Extinction Rebellion, Ende Gelände oder Initiative Nordtangente. Auch der Bund Naturschutz ist dabei."

Immer wieder stellt sich Mirjam Herrmann die Frage: "Wieso kommen wir beim Klimaschutz nicht vom Fleck?" Obwohl es darauf viele Antworten gibt, ist sich Mirjam Herrmann sicher: Eine davon ist Bequemlichkeit.

"Wir haben so viel Wohlstand erreicht, dass wir uns vom Einklang mit der Natur weit entfernt haben." Andere Dinge seien wichtiger. Mehr Geld verdienen, ein neues Auto fahren, Konsum eben, sagt sie. Die Menschen hätten sich von ihrer eigenen Existenzgrundlage entfernt: "Wir haben vergessen, dass wir darauf angewiesen sind, dass Bäume wachsen. Stattdessen haben wir uns darauf versteift, Konsumgüter anzuhäufen." Dabei, sagt sie, merken wir nicht, dass das System Konsum ein endliches ist. "Dieses System ist darauf ausgerichtet, sich am Ende selbst zu zerstören, da es keine Rücksicht auf die Natur nimmt. Genauso wird es auch uns zerstören."

Mirjam Herrmanns Konzept heißt daher nicht einfach Klimaschutz. "System change not climate change – wir wollen das System an sich verändern, nicht nur Menschen vom Klimaschutz überzeugen. Wohlstand darf es nicht mehr um jeden Preis geben."

Lassen sich Klimaschutz und Wohlstand überhaupt vereinbaren? "Sicher", ist Mirjam Herrmann überzeugt, "wenn man Wohlstand nicht mit Geld gleichsetzt". Fragt man Leute, was ihnen wirklich wichtig ist, dann seien das Familie, Freunde und Natur. Ein ganzes Leben lang nach Materiellem zu streben, dieser Wille, glaubt Mirjam, ist nicht mehr da. "Die Menschen verstehen langsam, dass Materielles vergänglich ist."

"Was bringt euch das, wenn ihr tot seid?"

Nicht vergänglich seien dagegen unsere zwischenmenschlichen Beziehungen. Das, was wir auf der Erde hinterlassen. "Selbst wenn das Klimacamp in Passau nur eine ganz kleine Sache ist", sagt Mirjam Herrmann, "kann daraus etwas entstehen, das größer ist als ich selbst und vielleicht eine messbare Auswirkung auf die Zukunft hat".

Ein Umdenken sollte daher ebenso in der Politik stattfinden, fordert die Aktivistin. "Wenn die Politik es sich zur Aufgabe machen würde, dafür zu sorgen, dass es den Menschen wirklich gut geht, anstatt sich um Macht und Geld zu kümmern, dann könnte man auch etwas verändern." Viel zu oft gehe es Politikern eher um die Konzerne oder die eigene Wiederwahl.

Dass es auch Leute gibt, die ihre Weltsicht nicht teilen, dafür hat Mirjam Herrmann Verständnis. Das gilt gerade für die Generation ihrer Eltern. "Den Frieden und Wohlstand, in dem ich aufgewachsen bin, sehe ich als Privileg an. Mich politisch zu engagieren und einzubringen ist das, was ich leisten kann." Obwohl sie respektiert, was die Generationen vor ihr geschaffen haben, hinterfragt sie deren Werte: "Manchmal schlägt mir von älteren Menschen Ablehnung entgegen. In diesen Momenten glaube ich, Angst in ihren Augen zu sehen. Angst, sich selbst eingestehen zu müssen, dass ihr Wertesystem nicht aufgeht. Macht euch das wirklich glücklich, wenn ihr ein großes Auto fahrt? Was bringt euch das, wenn ihr tot seid?", fragt die Aktivistin.

Klar hätten die Jungen nicht die Erfahrung der Alten, gesteht Mirjam Herrmann ein. Das könne aber auch eine Chance sein, ein frischer Blick und ein neuer Impuls. "Neulich kam eine alte Frau zu einer von unseren Aktionen und hat eine bunte Regenbogen-Fahne geschwenkt. Sie hat gesagt, ihr sei wichtig, auch im Alter noch offen für die Belange anderer zu sein." Genauso, sagt Mirjam Herrmann, wolle sie im Alter auch sein.

Offen für die Belange anderer, das hört sich gut an. Doch trifft das auch zu, wenn es hart auf hart kommt? Würde Mirjam es akzeptieren, wenn die deutsche Bevölkerung sich morgen demokratisch gegen die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels aussprechen würde? "Ich wäre unglaublich enttäuscht. Ich denke mir, wir haben doch die wissenschaftlichen Kenntnisse dafür. Es gibt eigentlich nichts abzustimmen, sondern das alles kommt sowieso auf uns zu. Doch ich würde es akzeptieren, weil ich eine große Verfechterin unserer Demokratie bin."

Mirjam Herrmann ist sich aber ohnehin sicher: Der Wunsch nach Natur- und Klimaschutz ist bereits in den Köpfen der Menschen. "Niemand will doch aktiv unsere Natur zerstören. So sind wir nicht. Ein paar Menschen möchten ihre Autos und das Fliegen nicht aufgeben, aber das ist eine Frage der Gewohnheit." Vielmehr gehe es um das große Ganze. "Unsere Politik bildet nicht den Bürgerwillen ab. Keiner hat Lust auf noch mehr Überschwemmungen, Dürren und Katastrophen." Und Politik fange eben auf kommunaler Ebene an. Egal ob Nordtangente, Tank-Tourismus oder ÖPNV-Ausbau, Passau habe beim Thema Klimaschutz einigen Diskussionsbedarf, findet Mirjam Herrmann. Sie und ihre Mitstreiter wollen dafür sorgen, dass die Diskussion darüber weitergeht.