"Aufstehen für die Kunst"
Sänger Christian Gerhaher: "Wir sind auch Wirtschaft"

08.03.2021 | Stand 21.09.2023, 4:31 Uhr

Sieht die Politik oft ratlos, wenn es um Kunst geht: Christian Gerhaher. −Foto: dpa

Christian Gerhaher, Jahrgang 1969, gilt als einer der profiliertesten Lied- und Opernsänger unserer Zeit. Der gebürtige Straubinger ist Kopf der Gruppe "Aufstehen für die Kunst". Sie droht dem Staat mit einer Klage. Ein Eilantrag beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof soll möglicherweise Anfang dieser Woche eingereicht werden. Wir sprachen mit dem Bariton.

Herr Gerhaher, der Lockdown soll gelockert werden. Sind Sie zufrieden? Oder werden Sie Klage einreichen?
Christian Gerhaher: Wir sind einerseits zufrieden, dass die Künste ein gewisses Szenario der Öffnung bekommen. Wir sind aber nicht damit einverstanden, dass dies so vergleichsweise spät bei den darstellenden Künsten zum Tragen kommt. Die Schlechterstellung der darstellenden Künste im Vergleich mit dem Einzelhandel sehen wir nicht ein.

Warum?
Gerhaher: Wir verstehen hier die Motivation der Politik nicht. Es wird zwar gesagt, dass die Hygienekonzepte der darstellenden Künste großartig seien; und es wird auch zunehmend anerkannt, dass es zahlreiche Studien gibt, die überzeugend die geringe Infektiosität für die Besucher der Kulturstätten darlegen. Und dennoch wird von der Politik nach wie vor behauptet, dass zu unseren Konzerten und Theateraufführungen gefahren werden muss, was die Gefahr mit sich bringt, dass sich die Leute anstecken. Uns ist aber nicht begreiflich, warum der Einzelhandel hier anders behandelt wird. Denn auch zu den großen Einkaufzentren fahren die Leute mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Schlechterstellung ist uns ein Dorn im Auge. Aber allein deswegen einen gerichtlichen Eilantrag zu stellen – da sind wir uns noch nicht schlüssig. Denn der Verwaltungsgerichtshof kann argumentieren, dass es inzwischen ein Ausstiegsszenario gibt.


In welcher Weise können Sie sich Konzerte vorstellen unter derzeitigen Corona-Bedingungen?

Gerhaher: Das ist sehr schwierig zu sagen, denn es hängt von den jeweiligen Bedingungen ab. Man kann das Nationaltheater mit seinen über 2000 Plätzen schlecht vergleichen mit einem Rathaussaal in einer mittleren bayerischen Stadt. Die Zufahrtssituation ist sehr unterschiedlich, ebenso die Belüftungstechnik. Was wir als nicht überzeugend ansehen werden, und wogegen wir uns dann auch wehren würden, wäre eine willkürliche Bestimmung wie im vergangenen September, als für alle Säle genau 200 Besucher zugelassen wurden.

Wie erklären Sie sich den geringen Stellenwert, den die Kunst in der Politik genießt?
Gerhaher: Wenn wir unsere Klage einreichen, werden wir auf die grundrechtlichen Prinzipien, die der Kunst zustehen, verweisen. Etwa auf die gleiche Wichtigkeit des Begriffs Kulturstaat wie des Begriffs Rechtsstaat in der bayerischen Verfassung. Das ist eine Besonderheit, die uns von vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen abheben würde, wenn sie denn so respektiert würde. Das andere ist die Kunstfreiheit im Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik, die auf gleicher Ebene wie die Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit steht. Aber Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit wird derzeit zwar eingeschränkt, keineswegs aber ganz aufgehoben. Anders steht es um die Kunstfreiheit.

Das erklärt den geringen Stellenwert, den die Kultur genießt, aber noch nicht...
Gerhaher: Die Politik ist oft ratlos, wenn es um die Kunst geht. Da sagt sie etwa im November, dass es sich bei der Kunst um Freizeitaktivitäten handelt, und die werden dann auch noch plakativ neben Bordelle und Spaßbäder gestellt. Da gehören wir aber nicht hin. Die Kunstfreiheit garantiert uns, dass wir uns nicht so definieren müssen. Sie garantiert uns, dass wir unsere Kunst ausüben können, ohne unterhalten zu müssen oder zu "erbauen", wie es der bayerische Ministerpräsident im April in seiner ersten Äußerung zur Kultur gesagt hat. Die Kunst sei wichtig, da sie zur Erbauung da sei. Das stimmt nicht. Die Kunst ist um ihrer selbst willen da. Genauso wie der Glaube auch um seiner selbst willen da ist. Der Glaube kann nicht hinterfragt werden, anders als das Wissen. Deshalb ist die freie Religionsausübung wichtig. Und so sehen wir das bei den Künsten auch.

Verblüffend ist in diesem Zusammenhang, dass die Politik die wirtschaftliche Stärke und Bedeutung der Kunst- und Kreativwirtschaft nicht berücksichtigt.
Gerhaher: Das verstehen wir überhaupt nicht. Peter Altmaier sagte, zuerst kommt die Wirtschaft und dann der Rest. Aber wir sind auch Wirtschaft. Die Kultur- und Kreativwirtschaft hat sogar einen enormen Anteil am Bruttoinlandsprodukt – etwa ein Fünfzehntel. Ich verstehe nicht, warum das nicht gesehen wird.