Passau
Nichts erreicht? − Scharfrichter-Gründer Walter Landshuter im Gespräch zum 70. Geburtstag

28.07.2015 | Stand 20.09.2023, 3:19 Uhr

Harte Schale, weicher Kater: Walter Landshuter kurz vor seinem 70. Geburtstag mit Haustier "Kracherl". − Foto: Thomas Jäger

Welch eine Szene: Innenhof des Scharfrichterhauses Passau. Dessen Mitbegründer Walter Landshuter wartet auf sein Interview zum 70. Geburtstag. Touristen fallen ein. Im historischen Kostüm spielt der Stadtfuchs-Führer den Gründungsmythos des Scharfrichterhauses nach, jene verhängnisvolle "Himmelskonferenz", die Bruno Jonas und Sigi Zimmerschied 1975 berühmt machte und dem Scharfrichterhaus einen Boykott unserer Zeitung einbrachte. Walter Landshuter betritt seine Terrasse im ersten Stock, der Stadtführer unterbricht die Vorstellung: Und hier sehen Sie den Scharfrichter höchstpersönlich! Beifall. "Ja, wie verkommen ist das eigentlich? Ja, gute Nacht! Fehlt nur noch, dass ich mir ein Kostüm anziehe, am Balkon das Beil schwinge und dafür Salär kassiere!" Walter Landshuter ist eitel genug, sich über die Ehre der Stadtführung zu freuen. Und er ist der Scharfrichter. Zum 70. Geburtstag, den er am Mittwoch, 29. Juli feiert, wünscht er sich besonders kritische Fragen. Bitte sehr.

Herr Landshuter, vor fast 40 Jahren sind Sie mit der Gründung des Passauer Scharfrichterhauses angetreten, um die betonierten Verhältnisse zu lockern. Haben Sie irgendetwas erreicht?

Landshuter: Ich glaube nicht. Ich bin kein unglücklicher Mensch nach den 40 Jahren, aber die naiven Ziele sind allesamt nicht eingetreten. Ich habe mich kindlich gefreut, dass unser Hauptplagegeist CSU − neben PNP und Kirche − sich in Passau fast pulverisiert hat. Was hat’s gebracht? Die Verwaltung ist noch mehr gelähmt als vor 40 Jahren, weil die CSU so schwach ist. Heute bin ich als Scharfrichter in der seltsamen Situation, dass ich mit eine stärkere CSU wünsche.

Und Ihre Freude über den roten Oberbürgermeister?

Landshuter: Die Freude war ein Irrtum. Albert Zankl von der CSU ist manchmal ins Scharfrichterhaus gekommen und hat gesagt: Von Kunst und Kultur versteh ich nix − aber jetzt erklären Sie mir mal Ihre Sicht. Was könnte man denn machen? Mit Jürgen Dupper bin ich in keinem Gespräch, er will nur, dass alles ruhig ist.

Immerhin die Stadt hat sich gewaltig entwickelt.

Landshuter: Ja, die schaut aus, als wäre sie heute ganz was anderes. Wir haben 10000 lärmende Studenten, mehr Touristen, die Schiffe werden immer größer. Das schaut nach pulsierendem Leben aus, aber um 17 Uhr ist alles weg, vor allem der Passauer kommt in Passau überhaupt nicht mehr vor. Wie in einem schlechten B-Movie: Alles ist Pappkulisse, und da treibt man täglich ein paar tausend Leute durch. An der Universität beschäftigen sich Forscher mit der Verzahnung von Kultur und Tourismus, aber dieses Wissen dringt nicht zu den Stadträten vor. Es findet kein Gespräch statt, wie Passau in 15 Jahren aussehen soll. Ich bin Mitglied im Kulturbeirat der Stadt. Du brauchst aber nicht glauben, dass jemals wer in der Stadt den Beirat um Rat gefragt hätte − noch nie. Neben dem Euro ist unsere wesentliche Währung die Idee, aber in Passau sind Ideen dummerweise nicht gefragt.

Vor zehn Jahren hat Matthias Ziegler Theater und Gastronomie im Scharfrichterhaus übernommen. Wie viel hat der Gründer heute noch mitzureden?

Landshuter: Wenig. Ich habe den Stab abgegeben und abgeben müssen, weil die wirtschaftliche Situation sehr prekär war und Mitbegründer Edgar Liegl ausgeschieden ist damals. Es bedurfte eines Neubeginns, darum habe ich keinerlei Cheffunktion mehr. Im Gegensatz zu den Angaben auf unserer Homepage bin ich weder Geschäftsführer noch Restaurantleiter. Ich bin Matthias Zieglers Berater − davon macht er manchmal reichlich Gebrauch und manchmal überhaupt nicht. Matthias Ziegler entscheidet alleine und fertig. Er ist der Boss.

Walter Landshuter und Matthias Ziegler, das beschreiben Kenner des Scharfrichterhauses psychologisch als Vater-Sohn-Verhältnis. Was sagen Sie dazu?

Landshuter: Der Vater, der beinah pleitegegangen wäre, sollte sich etwas zurückhalten, weil sein Sohn ihn aus der Bredoullie gezogen hat. Das muss man mal klar so sehen. Ich habe hier 25 Jahre lang sehr ideologisch gewirkt − und schlecht gewirtschaftet. Ich hatte 500000 D-Mark an Lebensversicherungen, die habe ich genau gebraucht, um meine Schulden zurückzuzahlen. Heute bin ich schuldenfrei, das ist mein Gewinn von fast 40 Jahren Scharfrichterhaus. Ich bin auch deshalb noch im Haus, weil ich noch etwas verdienen muss. Natürlich gibt es Situationen, wo die Vaterfigur der Sohnfigur etwas unbequem kommt und sagt: Das Scharfrichterhaus hat eine wirtschaftliche und eine geistige Säule, vergiss die geistige nicht! Dann sagt er: Nein, die vergesse ich nicht, aber wir müssen sie uns leisten können.

Der Inhaber hat nach dem Hochwasser öffentlich spekuliert, das Haus nicht wieder zu öffnen. Wie war die Vorstellung für Sie, Ihr Lebenswerk untergehen zu sehen?

Landshuter: Ich hätte Verständnis gehabt dafür, weil er zuvor schon sehr viel Geld investiert hatte. Es wäre mir unverantwortlich erschienen, ihn noch zu weiteren Investitionen zu drängen. Wir wurden ja als Hochwassergewinner bezeichnet − was für ein Zynismus! Wir haben eineinhalb Jahre keinen Umsatz gemacht, wir mussten alles Personal ausstellen, das war ein völliger Neuanfang. Zumal es bei einem Kleinkunsttheater nicht darum geht, Gewinn zu machen. Es geht darum, den Verlust zu minimieren. Matthias Zieglers wirtschaftliches Ziel ist es, jedes Jahr auf null zu kommen. Und dafür wird er dann kritisiert: Ihr macht keinen Jazz mehr, ihr macht zu viel Comedy! Es ist nicht die reine Freude, in Passau eine Institution zu sein.

Nach der Flut von 2013 haben Sie im Scharfrichterhaus die Bühne nach hinten gebaut und die Gastronomie nach vorne an die Donauseite. Ist das die neue Prioritätenliste des Hauses − ist die Kunst in den Hintergrund getreten?

Landshuter: Das ist eine sehr falsche Interpretation. Tatsächlich war es vor 40 Jahren meine erste Intention, die Räume genau so aufzuteilen. Darum sehe ich das als sehr richtige Korrektur. Wenn wir eine Veranstaltung hatten, gingen bisher um 20 Uhr die Lichter aus − und über den Innenhof ins Kellerrestaurant zu finden, das war etwas für Wissende und Findige. Jetzt sind wir immer offen.

Mit dem alten Ambiente hat die spektakuläre Innenarchitektur nichts mehr zu tun. Ist das noch Ihr Scharfrichterhaus? Und die Stammgäste haben die Neudefinition mitgemacht?

Landshuter: Die meisten sehen das ein, dass bei einem Neuaufbau eines Hauses auch eine innenarchitektonische Neuausrichtung da sein kann. Matthias Ziegler hat die Gelegenheit genutzt, sich im Haus richtig zu profilieren und nicht nur Details zu gestalten. So schön die Sofas und die Kirchenbank waren: Auch ein Scharfrichterhaus hat das Recht auf eine Zukunft und darf von einer jüngeren Generation da hingeführt werden. Natürlich sind auch ein paar beleidigt, aber stell dir vor, alle wären zufrieden, da hättest du ja auch was falsch gemacht.

Matthias Ziegler hat vor einigen Jahren offiziell die Revoluzzer-Doktrin des Hauses für beendet erklärt. Braucht’s den Stachel im Fleisch der Stadt nicht mehr?

Landshuter: Es bräuchte ihn schon, aber man darf so eine Institution wie das Scharfrichterhaus nicht überfordern. Nach wie vor treten Kabarettisten wie Sigi Zimmerschied auf mit seinem jetzigen Programm "Tendenz steigend", wir zeigen nach wie vor ambitioniertes politisches Kabarett, das sich mit Gegebenheiten der Stadt Passau beschäftigt.

Haben Sie je geliebäugelt, sich für den Stadtrat aufstellen zu lassen?

Landshuter: Niemals! Obwohl alle Parteien gefragt haben. Nur die CSU nicht. Ich habe das immer abgelehnt, weil ich gesehen habe, wie ohnmächtig die da drüben im Rathaus sitzen und von einem Ausschuss zum anderen eilen − und rauskommen tut letztlich gar nix.

Stellen Sie sich vor, Sie wären für ein Jahr OB der Stadt − was sind Ihre wichtigsten drei Projekte?

Landshuter: Als Erstes würde ich neben dem OB-Büro ein Stabbüro für Wirtschaft, Tourismus und Kultur einrichten und die Bereiche sehr eng verzahnen. Dann würde ich versuchen, möglichst viel Geld zu bekommen, um das Oberhausareal zu sanieren. Damit dort viel mehr Veranstaltungen stattfinden und wir die Touristenmassen aus der Altstadt rauskriegen. Ich würde so Kleinigkeiten machen wie die Flusspromenaden besser beleuchten, um die Leute zu bewegen, am Abend durch die Stadt zu flanieren. Und ich würde das Wort Kommerz nicht so häufig in den Mund nehmen wie die jetzigen Stadträte, die verbieten wollen, dass auf den Freiflächen gegrillt und ausgeschenkt wird. Die haben immer einen fürchterlichen Verdacht, dass jemand reich werden könnte, wenn er ein Bier verkauft oder ein Schmalzbrot.

Braucht Passau ein Konzerthaus?

Landshuter: Da bin ich einig mit dem OB: Wir brauchen nicht unbedingt ein großes Konzerthaus, aber ein kleineres mit 800 Plätzen, das würde ich angehen.

Stellen Sie sich vor, Sie wären Kulturreferent. Welche ist die wichtigste Weiche, die Sie stellen?

Landshuter: Das war auch so eine Naivität! Wir haben uns sehr gefreut, dass Passau einen eigenen Kulturreferenten bekommt. Max Brunner ist mit großer Vehemenz eingestiegen, hat viel für die Kultur getan − und sich völlig zwischen den Parteien aufgerieben. Er hat seit Jahren keine Kraft mehr, sich bei den Ignoranten durchzusetzen, es gibt seit Jahren vom Kulturreferat keine Impulse mehr. Was dem OB Dupper sehr recht ist, der will ja nicht mit Ideen überfordert werden. Wir haben im Kulturbeirat eine Empfehlung abgegeben, wie die Ausschreibung laufen soll. Ich hoffe, dass jemand dabei ist, der begeisterungsfähig ist und der Kultur eine Stimme gibt. Eine möglichst starke Stimme. Aber was hilft ein begeisterter Kulturreferent, der ins Leere spricht? Und die Angst hab ich fast. Diese Stadt hat außer Kultur nicht viel, wir sind keine Industriestadt − das hat die CSU verhindert in den 50er Jahren. Im Mittelalter war Passau eine der bedeutendsten Städte. Die Stadt ist implodiert, es stand nur noch ein riesiger Dom herum. Und heute fragen sogar die Passauer: Warum braucht so eine kleine Stadt so einen riesigen Dom? Ich würde als Kulturreferent die Stadt mit Ideen bombardieren.

Sollte Passau Weltkulturerbe werden?

Landshuter: Ich glaube nicht. Das hätte uns in den 40er bis 60er Jahren geholfen zu verhindern, die Stadt zu vernichten, als ganze Häuserzeilen abgerissen wurden.

Braucht Passau eine Seilbahn?

Landshuter: Nein, wir brauchen nur Ideen, wie man auf die Burg hochkommt. Sei es mit einem Schrägaufzug von der Ilz-Seite aus oder per Bustransfer. Und wenn per Seilbahn, dann will ich mal ein Modell sehen, sonst diskutieren wir immer ins Leere.

Sie sind ein begnadeter Lyriker, zum 65. Geburtstag haben Sie spekuliert, mit den Texten endlich an die Öffentlichkeit zu gehen. Warum zögern Sie so lang?

Landshuter: Ich habe schon immer ein bisschen für mich geschrieben, hatte aber nie das Bedürfnis, meine Texte öffentlich darzustellen (außer für den Maler Alois Riedl eine Laudatio halten im Museum Moderner Kunst, das macht mir dann schon Spaß). Aber ich habe viel zu viel Achtung vor Schriftstellern, als dass ich ein Buch schreiben würde. Ich erzähle gern Geschichten und ich schreibe gern, aber die Buchform, das interessiert mich nicht.

Sie stammen aus Leopoldsreut. Zieht es Sie zurück?

Landshuter: Mit 65 habe ich überlegt, ob ich in den Bayerischen Wald zurückziehe. Aber ich habe das verworfen. Solange ich hier im Scharfrichterhaus geduldet werde und eine sinnvolle Arbeit tun kann, werde ich auch dableiben. Im Bayerischen Wald gefällt mir die Landschaft, aber mit der Landschaft allein kannst du nicht kommunizieren, du brauchst Leute, mit denen du kommunizierst. Wenn ich in Haidmühle oder Bischofsreut bin, dann denke ich: Oh je! Nicht, weil die da alle blöd sind, aber die bringen mich nicht weiter! Wenn ich hier bis drei, vier in der Früh mit Kabarettisten zusammensitze, dann hab ich das Gefühl: Das war ein großartiges Gespräch! Darum bleibt der Bayerische Wald für mich eine Wochenendbeziehung.

Mit 70 fängt man an, vom Herbst des Lebens zu sprechen. Wie bunt oder wie grau ist er?

Landshuter: Ich habe mich letztes Jahr ertappt, wie ich sehr erbost war, dass die Stadt mich zu einem Seniorennachmittag eingeladen hat. Ich habe das als Frechheit und Zumutung empfunden. Und zugleich habe ich bemerkt, dass ich einen falschen Blickwinkel auf mein Alter hab. Meine Mutter wäre mit 90 noch zu keinem Seniorennachmittag gegangen. Also: Ich habe das Gefühl, dass ich noch sehr dynamisch und fit bin: Ich kann ein 50-Liter-Fass durch die Gegend tragen, ohne dass ich mich danach krumm fühle, ich bin zweimal in der Woche im Fitness-Studio. Ein paar Jahre kann ich schon noch sinnvolle Tätigkeit leisten.

Sie haben auch schon mal älter ausgesehen als heute.

Landshuter: Ja, das glaube ich auch! Wenn ich heute alte Fotos sehe, mit dem Wuschelbart und den längeren dunklen Haaren, dann denk ich: Warum hast du das gebraucht damals? Aber als ich von der Eterna weg bin und zum Scharfrichter wurde, das war eine so bedeutsame Zäsur, dass ich das auch optisch habe darstellen müssen. Joseph Gallus Rittenberg hat mich einmal als schwarzes Loch bezeichnet. Und immer, wenn ich mit meinem Bart vorm Scharfrichterhaus gestanden bin, sind die Leute links und rechts dran vorbei.

Gibt Ihnen der Chef zum 70. frei?

Landshuter: Danach habe ich ihn nicht gefragt. Ich hab mir eine Woche Urlaub genommen und werde mich zurückziehen in den Bayerischen Wald. So gern ich die Leute um mich hab: Ich will nicht den großen Zampano spielen im Scharfrichterhaus. Außerdem genieße ich es, wenn ich mit meiner Doris allein im Bayerischen Wald spazieren und Radl fahren kann.

Sollte man ein Wort über Ihre Partnerin verlieren?

Landshuter: Ja, das sollte man! Dass ich kein so Finsterling mehr bin wie damals, das liegt an dem Sonnenschein an meiner Seite. Doris hat so ein freundliches Wesen, dass sich das erhellend auf mich ausgewirkt hat. Sie war oft als Gast im Haus, und sie hat offenbar hinter die Fassade geblickt und sich gedacht: Vielleicht ist der gar nicht so dunkel!

Wo kam diese Dunkelheit denn her?

Landshuter: In der Eterna hatte ich jeden Tag mit bunten Stoffen und farbigen Knöpfen zu tun. Ich glaube, das hat viel mit meiner Marotte zu tun, mich dunkel zu kleiden. Eigentlich habe ich ja ein Faible für Gelb. Wenn ich den Mut hätte, würde ich mich gelb kleiden. Hab ich aber nicht. Ich habe oft gelbe Hosen probiert. Dann schau ich in den Spiegel und denk mir: Nein, das entspricht nicht deiner Seele.

Von der Modefirma Eterna zum Scharfrichter − wie stellt sich das heute in der Rückschau dar?

Landshuter: Wenn du dich ein Leben lang mit Außendienstmitarbeitern und Verkäufern von Neckermann und Hertie beschäftigst und mit denen vielleicht auch irgendwann in den Urlaub fährst − ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre. Freilich war es im Scharfrichterhaus viel härter, ich habe 20 Jahre lang jeden Tag um meine Existenz gefürchtet. Die Kredite waren noch nicht genehmigt, da lagen schon die Rechnungen auf dem Tisch. Wir hätten alles in Kauf genommen, nur um einmal was in Bewegung zu bringen. Das ist diese Rest-68 Mentalität, wir sind nach München gefahren und haben Dutschke angehört, wir waren bei Habermas in der Vorlesung. Ich habe kein einziges Wort verstanden, aber ich hatte das Gefühl, etwas Großartiges erlebt zu haben!

Ein erfülltes Leben?

Landshuter: Ich kenne einige Leute in der Stadt, die nie machen durften, was sie wollten. Da wollte einer vielleicht immer Sänger und Schauspieler sein, aber er ist ein Leben lang Lehrer gewesen. Jetzt ist er pensioniert, schaut zurück und denkt: Scheiße. Diese Menschen beneiden mich, dass ich genau das gewagt habe, wozu sie nicht den Mut hatten. Einmal ging ich durch Mönchengladbach als Eterna-Verkäufer in meinem Armani-Anzug und mit meinem Ledertascherl und habe mich im Schaufenster gespiegelt und gefragt: Wer bist du eigentlich? Oder ich habe Kunden in die VIP-Box auf der Wiesn eingeladen und mit ihnen La Paloma gesungen. Danach stand ich im Hotel vorm Spiegel und hab mir gesagt: Du Arschloch, hast jetzt La Paloma singen müssen, damit du morgen den Auftrag kriegst. Das ist schon klar: Scharfrichter sein, das ist schon auch eine Rolle, die ich kontrolliere. Aber diese Rolle hat was mit mir zu tun.

Die Rolle des aufmüpfigen Rebellen.

Landshuter: Aufmüpfig, ja. Das Scharfrichterhaus hatte eine Stellvertreterfunktion für alles, was sich in der Stadt angestaut hatte. Aber Rebellion? Widerstand? Das waren die Geschwister Scholl und nicht ich. Das bisschen Aufmüpfig-Sein, das ist doch kein Widerstand, das ist eine Selbstverständlichkeit. Ein Psychologe würde sagen: Dieses "Widerständige", das kommt von den Schlägen, die ich von meinem Vater, in der Schule in Fürstenzell und im Passauer Schülerwohnheim Pellianum kassiert habe. Der Pfarrer Benz in Latein und Griechisch: Ein Fünfer, eine Watschn, ein Sechser, zwei Watschn. Du musstest antreten, er hat die Uhr abgenommen und zack. Einige sind in dieser Zeit zerbrochen. Das Einzige, was mich als Schüler aufrecht gehalten hat, war der Gedanke: Pfarrer Benz, dich bring ich eines Tages um. Viele Jahre später, nach der Gründung des Scharfrichterhauses saß ich eines Tages kaffeetrinkend vor der Tür und sah ihn brevierbetend die Milchgasse runterkommen. Ich dachte: Jetzt ist es so weit, jetzt müsst ich eigentlich hingehen und ihm das Messer reinrennen. Nur habe ich dann gemerkt: Ich hab überhaupt keinen Hass mehr. Der war zu dem Zeitpunkt wahrscheinlich schon im Scharfrichterhaus kanalisiert.

Der Scharfrichter, ein Mensch der Gelassenheit und des Friedens?

Landshuter: Es gab genug Feindseliges. Die zehn Jahre PNP-Boykott zum Beispiel haben mich irrsinnig viel Geld gekostet und einen Großteil meiner Schulden verursacht. Im Rathaus hieß es: Dieses Haus da drüben wird nicht betreten! Ich kenne Stadträte, die sind nach München gefahren, um Sigi Zimmerschied zu sehen, weil sie es in Passau nicht wagten. Umso mehr habe ich in all den Jahren versucht, Gelassenheit zu lernen. Manchmal kann ich es sehen wie ein großes Theater: Den ganzen Tag kommen Geschichten auf mich zu. Einer erzählt mir von seiner Depression, die andere von ihrer Schwangerschaft, der Dritte von der Kabarettszene in Wien. Hätte es nicht die existenzielle Not gegeben, das Leben als Scharfrichter wäre das reinste Vergnügen gewesen. Ich habe etliche Phasen der Depression durchgemacht, und rausgekommen bin ich nur durch Nachdenken, Philosophie, Literatur und Schreiben − das war mein Religionsersatz. Und mein Weg zur Gelassenheit. Wie Sigi Zimmerschied sagt: Wenn ich die Bühne nicht hätte, wäre ich wahrscheinlich in der Psychiatrie. So ist das wohl bei mir mit dem Scharfrichterhaus.