Mit "Pflanzerl" die Welt zu einem besseren Ort machen

Mit der Vitalkraft der Keimlinge: Junglandwirte bauen sich mitten im Lockdown mit "Microgreens" Existenz auf

25.05.2021 | Stand 21.09.2023, 0:09 Uhr
Veronika Mergenthal

Die Liebe zu Wildkräutern wie dem Spitzwegerich hat Hannah von ihrer Mama Julia geerbt.

Berchtesgaden/Maria Gern. Neugierig beugt sich die kleine Hannah vom Arm ihrer Mutter aus hinunter zu den feinen Pflanzerln: Dicht an dicht drängen sich in den Kästen die ersten Blätter von Sonnenblumen, Koriander, Brokkoli oder Spitzwegerich dem Licht entgegen. Mitten im Lockdown hat eine junge Berchtesgadener Familie den Sprung ins kalte Wasser gewagt. Julia Nowak und Paul O’Regan kultivieren in Vordergern so genannte "Microgreens", Babysalate und essbare Blüten.

Weil ihr gesundes, nährstoffreiches Grün nicht viel Platz braucht, kann die junge Familie auf nur wenig Grund im Planitschlehen ganz am Ende des Rabensteiner Wegs ihren Traum verwirklichen: eine kleine Landwirtschaft. "Ich wollte schon als Kind einen Bauernhof haben", erzählt Julia Nowak. Sie ist auf dem Salzberg aufgewachsen. Ihre Oma, die mit im Haus wohnte, hatte ihr von ihrer Kindheit mit einem Pferd und Hühnern erzählt. "Wir hatten nur Hasen und Katzen." Julia erinnert sich noch, als ob es gestern gewesen wäre, wie ihr ihre Oma bei einem Ratsch beim Zwetschgen aufsammeln deshalb einen Rat mitgab: "Wenn du groß bist, kannst du ja Bäuerin werden."

In ihrer Jugend blieb die Sehnsucht, zu den Ursprüngen zurück zu kehren, Selbstversorger zu werden und ihr späteres Kind anders aufwachsen zu sehen. In Paul fand sie einen Weggefährten. Das Paar lernte sich vor drei Jahren kennen, als Julia in Irland bei "Work and travel" in Pauls Gartenbaubetrieb mitarbeitete. Für einen Kunden baute dieser aus einer Eiche aus acht gleichen Teilen ein so genanntes "Mond-Tor", ein rundes Tor, das für das innere Selbst steht. Die in Berchtesgaden ausgebildete Holzbildhauerin Julia fand das sehr spannend. "Das war schon symbolisch", merkt sie lächelnd an, während sie vor einer Tasse starkem irischen Tee sitzt. Seit gut zweieinhalb Jahren wohnt Julia nun im Planitschlehen zur Miete, Paul siedelte im Herbst von Irland hierher um. Im Januar gründete er seinen Betrieb "Pflanzerl". Die junge Mutter hilft mit, soweit sie es schafft mit der ein halbes Jahr alten Tochter. Paul bringt als ausgebildeter Elektroingenieur seine technologischen Ideen ein. Inspiriert haben ihn auch Gärtner aus Kanada, Schweden und England, die unter ähnlichen, extremen klimatischen Bedingungen arbeiten.

Nach der Finanzkrise 2008 studierte Paul Permakultur und Ökogemüsebau. "Ich war es leid, verrückte Gärten für reiche Leute anzulegen. Das entsprach nicht meinem Wunsch, die Welt zu einem besseren Ort zu machen." Die Saat für Pauls späteren Weg hatte einst sein Vater gelegt, ein Ingenieur und Imker, der mit Leidenschaft mit seinem Sohn Gemüse anbaute. Pauls Mutter kommt von einem Bauernhof.

Doch wie entstand die Idee, etwas Ausgefallenes wie "Microgreens" zu züchten, wo die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt? Auslöser sei eine Haaranalyse vor eineinhalb Jahren gewesen, verrät Julia. "Ich wollte wissen, welche Nährstoffe mir fehlen. Vom Labor wurde mir empfohlen, viele grüne Sachen zu essen." Da es gar nicht so einfach ist, so viel Grün zu essen, wie der Körper bräuchte, um genug Mineralien, Vitamine oder Proteine zu erhalten, kam das Paar auf die Microgreens. Die gleiche Masse enthalte hier 30 bis 60 Mal so viele wertvolle Nährstoffe wie normales Gemüse. Denn in den ersten Blättern steckt die ganze Vitalkraft der Pflanze.

Paul führt in einen dunklen Nebenraum. Hier keimen die Samen zugedeckt drei Tage. Manches, wie Rucola, wird noch zwei Tage länger in Dunkelheit belassen, damit die Stiele länger werden. Danach wachsen die Pflänzchen fünf bis sechs Tage mit Hilfe von deutschem Ökostrom unter LED-Licht mit demselben Spektrum wie Sonnenlicht im geschützten Anzuchtraum. Derzeit gedeihen hier acht bis zwölf verschiedene Sorten, wie Erbsen, Rote Beete, Mangold oder Kohlrabi. Die Greens halten in den Schalen im Kühlschrank sieben bis zehn Tage und frisch abgeerntet in Gläsern mindestens fünf Tage. Weil die Mini-Pflänzchen was fürs Auge sind – so ist Mais gleich nach dem Keimen gelb und Amaranth pink-rot – und sich zum Abrunden und Würzen von Gerichten eignen, wollen die Existenzgründer Küchenchefs dafür gewinnen.

Selber kochen beide gern kreativ mit Microgreens, Babysalaten – eng gepflanzten Salaten und Gemüsen, die dadurch klein bleiben – und Blüten. "Wir essen praktisch wie Könige die ganze Zeit – lebendiges Essen", schwärmt Julia. Das ursprüngliche Vorhaben, zuerst auf Wirte und Hoteliers zuzugehen, wurde durch den Lockdown eingebremst. "Wir haben uns das etwas leichter vorgestellt", räumt die Berchtesgadenerin ein. So gingen sie den Weg zum Einzelverbraucher. Die Resonanz beim ersten Bauernmarkt war positiv. "Ich bin gar nicht mit dem Schneiden nachgekommen", erzählt Julia. Nach dem Wochenmarkt kommen alle Pflanzerl, die übrig sind, an die Sonne, wo sie zu Babysalaten reifen. "Manchmal trag ich sie bei schönem Wetter schon vorher ins Sonnenlicht", so Julia.

Der Plan ist, Babysalate und Microgreens im Talkessel an die Haustüren zu liefern. Hier würde sich durch Austauschen der Pflanzschalen die Verpackung erübrigen. Ein Bio-Zertifikat ist angedacht; dann könnten die Junglandwirte ihre Pflanzerl, die sie aus Bio-Saatgut in Bio-Erde züchten, auch über die Gemüsekiste des Biohofs Lecker vertreiben. Bereits jetzt gibt es das frische Grün aus Vordergern über Andis Obstkiste in Bischofswiesen. Für die Lieferungen an Gastro-Betriebe sind Paul und Julia auf der Suche nach Öko-Verpackungen. "Wir wollen zeigen, dass man auf einer kleinen Fläche, wenn man das intensiv gestaltet, genau so erfolgreich sein kann", erklären die jungen Leute. Sie beginnen klein, auf etwa 200 Quadratmeter. Mittelfristig wollen sie jedoch für ihre nachhaltige, regenerative Landwirtschaft, die den Humusaufbau im Fokus hat, bis zu 0,67 Hektar anpachten.

Auf dem kleinen Gemüsefeld nahe einem steilen Abhang sieht man, wie die regenerative Landwirtschaft im Detail funktioniert. Wo etwas gepflanzt werden soll, legt Paul unbehandelte Pappe aus. Darüber wird mit Erde und Kompost jedes Jahr der Boden neu aufgebaut. "Wir stören den Boden und seine Mikroorganismen nicht." An der Pappe bildet sich Mycelium, das "Gehirn" des Pilzes, das Netzwerk, mit dem die Nährstoffe für die Pflanzen hin- und hergeschickt werden. "Wir ahmen eigentlich das Wald-System nach." Durch die Pappe auf der Grasnarbe dringt kaum Unkraut zu den Pflanzen durch.

Jeder Schritt wird abgewogen, ob er zum nachhaltigen eigenen Anspruch passt. "Wir mögen halbe Sachen nicht", betont das Paar. Dazu gehört der bewusste Einkauf aller Materialien. Für den Schutz der Jungpflanzen im rauen Klima fand Paul noch keine andere Alternative als Plastikplane. Wenn diese jedoch von guter Qualität sind, könne man sie, einmal zugeschnitten, jahrelang verwenden.

Anbauen sei in Irland durch das dank des Golfstroms milde Klima viel einfacher, stellt Paul fest. Aber das macht ja gerade den Reiz aus. Julia bringt ihre Liebe zu den Wildkräutern in den Betrieb ein. Beim Berchtesgadener Kräuter-Experten Anderl Heiß hat sie viele Kurse gemacht. Nun kultiviert sie auch Kräuter wie Spitzwegerich als Microgreens. Letztere haben übrigens den Vorteil, dass sie nicht so bitter wie gesammelte Wildkräuter sind.

Der Pädagoge und Forscher Arno Stern hat sie dazu inspiriert, Arbeit als eine Art Spiel zu sehen, als ein kindliches Entdecken von Neuem, wie es auch die kleine Hannah tagtäglich auf selbstverständliche Weise erlebt. "Das Leben ist leichter so." Nach ihren Reisen, wo sie viele Menschen traf, die kein saubereres Trinkwasser kennen, wurde Julia bewusst, wie nahe die Berchtesgadener noch dran sind an der Natur. "Sie haben durch die Berge, den Wald und das Wasser ein Verständnis für sie." So ist sie voller Zuversicht, dass sich die Herzen der Berchtesgadener auch für diese "Pflanzerl" öffnen werden.