Innsbruck: Bestimmt von den Bergen

09.10.2020 | Stand 19.09.2023, 20:08 Uhr

Foto vor dem Gipfelkreuz: Der Sulzkogel ist ein relativ einfach zu besteigender 3000er – und trotzdem nicht überlaufen. Auch, weil es keine Seilbahn gibt. −Fotos: Andreas Lakota

Oft rauscht man einfach daran vorbei. Auf der Überholspur Richtung Brenner bleibt höchstens Zeit für einen flüchtigen Blick auf die imposante Skisprungschanze, die über der Stadt thront. Dabei wäre ein Stopp in Innsbruck in vielerlei Hinsicht lohnenswert. Kulturell. Historisch. Und vor allem wegen der Berge.

Sie hatte den perfekten Blick. 2017 war es, als Anna Stöhr für ein Fotoshooting auf den 51 Meter hohen Stadtturm kraxelte. Das Goldene Dachl. Die Kaiserliche Hofburg. Der Dom St. Jakob. Die verwinkelten Altstadtgassen mit all den kleinen Cafés, die bunten Häuserfassaden, die Spuren, die Kaiser Maximilian I. hinterlassen hat. Alles direkt unter ihr. Doch mehr als all diese Sehenswürdigkeiten beeindruckten Anna Stöhr die Berge, die sie von ihrem Logenplatz im Zentrum Innsbrucks beinahe anfassen konnte. Auf der einen Seite die mächtige Nordkette, ein Wall aus hellem Kalkgestein mit schroffen, spitzen Gipfeln. Auf der anderen der Patscherkofel, der Hausberg der Innsbrucker, sanfter, rundlicher, und doch auch über 2000 Meter gen Himmel ragend. Ziemlich viel Berg, ziemlich viele Möglichkeiten, nicht nur für eine Profi-Kletterin wie Anna Stöhr.

"Ich bin durch meinen Beruf schon viel herumgekommen in der Welt. Aber die Gegebenheiten in Innsbruck sind wirklich einmalig", sagt sie. "So kurze Wege in die Berge gibt es in keiner anderen Großstadt." Tatsächlich ist die Kessellage der Tiroler Landeshauptstadt mit ihren 130 000 Einwohnern mitten in den Alpen einzigartig. Wo sonst steigt man mitten in der City in eine Standseilbahn, mit der die Bewohner in wenigen Minuten zum Stadtteil Hungerburg auf 870 Metern gelangen, von wo aus es mit der Nordkettenbahn weitergeht direkt ins alpine Hochgebirge – und damit auf eine Spielwiese für Sportbegeisterte.

Skifahren und Tourengehen im Winter, Mountainbiken, Wandern, Laufen oder Gleitschirmfliegen im Sommer. Die Berge bestimmen das Freizeitverhalten. Und lockt eine Gruppe an, deren Sportart gerade absolut im Trend liegt: die Kletterer.
Warum sich Innsbruck selbst als "Climber City" bezeichnet und nicht selten gar als Kletterhauptstadt Europas gerühmt wird, ist nur unschwer zu übersehen. Zum einen wurde hier 2017 für über zwölf Millionen Euro die größte zusammenhängende Kletterhalle der Welt erschaffen, ein Eldorado für Hobbyathleten und Spitzensportler zugleich. Und zum anderen bieten die so nahe liegenden Berge "schier unbegrenzte Möglichkeiten für Felskletterei aller Art", wie Anna Stöhr es nennt.

Rund um Innsbruck gibt es mehr als tausend verschiedene Kletterrouten in sämtlichen Spielarten und Schwierigkeitsgraden. Lange Routen, kurze Routen, Klettersteige, Klettergärten. "Das Niveau ist hoch. Innsbruck zieht viele ambitionierte Kletterer an. Vor allem die berühmte Martinswand ist sehr beliebt", sagt Anna Stöhr, die neben zahlreicher Weltcupsiege auch zweimal den Weltmeistertitel im Bouldern, also dem Klettern ohne Seil in Absprunghöhe, erringen konnte und Innsbruck als ihre Heimatstadt gewählt hat. Dann schickt sie hinterher:"Aber für Anfänger, Hobbykletterer und Familien ist nicht weniger geboten."

Zum Beispiel in der Ehnbachklamm in Zirl, nur zehn Autominuten vom Stadtzentrum entfernt. Gerade an den Wochenenden pilgern viele Familien durch die kleine, enge Schlucht. Ihr Ziel ist ein fast ausgetrocknetes Flussbett, das hinter einer riesigen Staumauer liegt und von steilen Wänden umzingelt ist. Ein Klettergarten mitten im Naturpark des Karwendels. Picknicken, Staudämme bauen, wandern und gesichert am Seil auf einer der rund 130 Routen, viele davon kurz und relativ einfach, nach oben kraxeln: so sieht für viele Innsbrucker Familien der perfekte Sonntag aus.
Klettern hat sich in der kleinen Großstadt längst zum sommerlichen Pendant des Skifahrens entwickelt. Doch auch sonst ist Innsbruck ziemlich sportlich unterwegs, was nicht zuletzt an den über 30000 Studenten liegt. Entlang des Inns wimmelt es von Radfahrern. Skateboarder brausen durch die Straßen. Wanderer schlendern durch die Altstadtgassen. Und am Goldenen Dachl, dem Touristen-Hotspot schlechthin, blickt niemand schief, wenn plötzlich ganzkörpergeschützte Mountainbiker vorbeirollen oder Gruppen von Kletterern vorbeiziehen, beladen mit Riesen-Rucksack und Seil.

Nicht viel weniger Berg, dafür umso mehr Ruhe ist in den umliegenden Tälern der quirligen Inn-Metropole zu finden. Allen voran im Sellraintal, das sich keine 20 Autominuten hinter Innsbruck versteckt und bei Touristen nur wenig bekannt ist. Warum? "Weil es hier so gut wie keine Gondelbahnen gibt, die einen bequem zu den Gipfeln bringen", sagt Bergführer Matthias Bader.

Auch Hotelburgen oder schick designte Bergrestaurants sucht man in einer der am dünnsten besiedelten Gegenden Tirols vergeblich. Dafür gibt es Bauernhöfe, Almen und kleine Örtchen wie Gries, St. Sigmund und Sellrain, die vom österreichischen Alpenverein aufgrund ihrer Ursprünglichkeit in den erlauchten Kreis der "Bergsteigerdörfer" aufgenommen wurden − ein Titel, der nur den Orten verliehen wird, die nachhaltigen Tourismus pflegen und in denen das Bewusstsein über den notwendigen Einklang zwischen Natur und Mensch lebendig ist.

Durch das Tal schlängelt sich eine steile Serpentinenstraße, je weiter sie nach oben führt, desto karger wird die Landschaft, die fast einem schottischen Hochland gleicht. Kühe kreuzen den Weg, Pferde weiden an den Hängen. Ganz oben auf der Passhöhe, 2000 Meter über dem Meer, taucht Kühtai auf, Österreichs höchstgelegener Wintersportort.

Im Sommer wirkt er wie ausgestorben, gerade einmal zehn Einwohner halten die Stellung. Die allermeisten Hotels und Gasthäuser haben geschlossen, sie sperren erst wieder auf, wenn die Skifahrer kommen. Warum der Parkplatz am Drei-Seen-Lift, der einzigen im Sommer geöffneten Bergbahn, dennoch einigermaßen gefüllt ist, liegt an den zahlreichen Wanderrouten, die von dem Hochplateau aus in die Stubaier Alpen führen. Und am Sulzkogel.

Dieser ist einer von über 30 Dreitausendern in der Gegend – und doch etwas ganz Besonderes. Denn kaum ein anderer so hoch gelegener Gipfel im gesamten Alpenraum soll einfacher zu bezwingen sein, heißt es. Auch Bergführer Matthias Bader sieht im Sulzkogel einen perfekten Einsteigerberg für eine Tour über die magische 3000er-Marke. Der Weg sei relativ einfach, es gebe kaum gefährliche oder ausgesetzte Stellen, Absturzgefahr besteht praktisch nicht. Dennoch warnt der Bergführer, den Sulzkogel zu unterschätzen. "Es ist immer noch eine Tour ins alpine Hochgebirge, daher sollte man die entsprechende Ausrüstung und Kleidung mitnehmen und unbedingt den Wetterbericht verfolgen. Denn das Wetter kann hier oben sehr schnell umschlagen."

Von Kühtai aus bis zum Gipfel sind etwas mehr als 1000 Höhenmeter zu bewältigen. Rund fünf Stunden dauert der Aufstieg. Zunächst geht es über einfache Wanderwege zu einem großen Speichersee, dem Finstertaler Stausee mit smaragdgrünem Wasser. Nach dessen Umrundung folgt der kraftraubende Teil der Tour. Steile Passagen über Blockwerk, Geröll und Schotter erfordern gute Kondition und Trittsicherheit, sind aber für etwas geübte Wanderer problemlos zu meistern. Auch ist der Weg stets gut markiert. Zum Gipfel führt ein kleiner Grat, der allerdings ausreichend breit ist und lediglich ein bisschen Schwindelfreiheit voraussetzt.

Weil es weder eine Seilbahn noch irgendwelche Einkehrmöglichkeiten auf der Tour gibt, ist der Sulzkogel selbst an schönen Sommertagen nicht überlaufen. Oben angekommen posieren gerade einmal zwei junge Männer am Gipfelkreuz und genießen den atemberaubenden Rundumblick auf ein Meer an Bergen. "Dumm nur, dass wir ein Gipfelbier vergessen haben", sagt der eine. Sie wollen es nachholen. Abends in Innsbruck. Die kleine Großstadt ist ja vom Dach des Dreitausenders nur einen Katzensprung entfernt.

INFORMATIONEN

Innsbruck ist die Hauptstadt des Bundeslandes Tirol im Westen Österreichs. Infos auch unter www.innsbruck.info.

ANREISEN

Innsbruck ist durch seine Lage direkt an der Inntalautobahn A12 gut mit dem Auto zu erreichen.

ÜBERNACHTEN
Das Hotel Grauer Bär liegt in der Altstadt von Innsbruck in unmittelbarer Nähe zu vielen Sehenswürdigkeiten und Gasthäusern. Das Haus bietet geräumige Familienzimmer.

FÜR AKTIVE FAMILIEN
Nur 15 Autominuten vom Stadtzentrum entfernt startet die Gondelbahn zur Muttereralm. Auf 1600 Metern Höhe befindet sich ein großer Abenteuerspielplatz. Im Speichersee ist Baden oder Floßfahren möglich. Von der Alm aus starten viele familientaugliche Wanderwege. Zudem gibt es einen Bikepark mit fünf Trails. Tipp: den Weg ins Tal mit Mountain Carts zurücklegen. Für die Dreiräder ist eine eigene Abfahrtsstrecke angelegt.

DIE CORONA-LAGE

Aufgrund erhöhter Infektionszahlen hat das Auswärtige Amt aktuell eine Reisewarnung für Tirol ausgesprochen. Rückkehrer benötigen einen negativen Corona-Test oder müssen in Quarantäne.

Redakteur Andreas Lakota recherchierte mit Unterstützung von Innsbruck Tourismus.