Buchpreisträgerin im Interview
Glauben Sie an die Liebe, Frau Strubel?

29.04.2022 | Stand 29.04.2022, 11:10 Uhr

Antje Rávik Strubel stellt heute ihr Buch "Blaue Frau" – Roman des Jahres 2021 im Scharfrichterhaus vor. −Foto: Philipp von der Heydt

Kunstvoll und ernst schreibt Autorin Antje Rávik Strubel von Adina, die als junge Praktikantin in die Fänge eines mächtigen Kultur-Funktionärs gerät und von ihm missbraucht wird. Für ihre Erzählkunst erhielt die in Potsdam lebende Schriftstellerin den Deutschen Buchpreis, und "Blaue Frau" wurde als Roman des Jahres 2021 ausgezeichnet.

"In einer tastenden Erzählbewegung gelingt es der 48-Jährigen, das eigentlich Unaussprechliche einer traumatischen Erfahrung zur Sprache zu bringen," so die Begründung der Jury. Wie Adina beginnt, sich allmählich selbst wiederzufinden und sich zurück ins Leben tastet, zeigt die Geschichte auf faszinierend feine Art. Auf Einladung des Passauer Pegasus liest die Autorin am Samstag im Scharfrichterhaus. Im PNP-Interview erzählt sie, wie ihr Aufenthalt in Finnland die Geschichte prägte und wie sie zur titelgebenden "Blauen Frau" fand.

An was denken Sie als Erstes, wenn Sie heute an Finnland denken?
Strubel: Zuerst denke ich an die durch Putins Vernichtungskrieg zugespitzte politische Lage, an das Ende der jahrelangen neutralen Nachbarschaft. Lieber denke ich allerdings an die zugefrorene glitzernde Ostsee und die vielen Loipen, die es selbst in Stadtvierteln gibt, an die wunderbare Architektur Helsinkis und das Wasser überall, an Birke, Vogelbeerbaum, See und Felsen; den Inbegriff dieser Landschaft. Meistens gerate ich dann ins Schwärmen!

So genau wie in Ihrem Roman, habe ich Finnland noch nie wiedererkannt. Sie haben ja eine Zeit lang dort verbracht. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Strubel: Mein halbjähriger Aufenthalt dort hat mir ein neues Verständnis für das Verhältnis zwischen Ost- und Westeuropa eröffnet. Gespräche mit finnischen, aber auch baltischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern am Wissenschaftskolleg der Uni Helsinki zeigten mir, mit welcher Arroganz der Westen die historischen Besonderheiten der jüngeren osteuropäischen Geschichte oft übergeht, etwa, wenn es sich um die Schrecken des 20. Jahrhunderts handelt. Man wollte wenig davon wissen, dass es zwei totalitäre Systeme gab, eine andere zeitliche Dimension des Erinnerungsprozesses und ein durch Stalins Verbrechen geprägtes Verhältnis zu Russland. Das rächt sich nun.

Die titelgebende "Blaue Frau" passt zu den Farben Finnlands, zu den Seen und Flüssen. Sie ist einerseits immer wieder da – und zugleich wirkt sie auch wie eine vorübergehende Erscheinung. Wer ist also die Blaue Frau?
Strubel: Schwer zu sagen. Sie hat sich mir auch nie ganz erklärt. Als offene Figur gehört sie zu den Luft- und Wassergestalten der Literaturgeschichte. Ihr Irrlichtern ist für mich von großer Schönheit, sie hat etwas Verführerisches und auch Tröstliches an sich. Und immer, wenn ich mit ihr in ein Zwiegespräch kam, konnte ich über das Erzählen nachdenken, darüber, was diese Geschichte eigentlich mit mir als Autorin in der heutigen Zeit zu tun hat.

Haben Sie denn die Blaue Frau erfunden oder hat die Blaue Frau Sie gefunden?
Strubel: Die blaue Frau hat tatsächlich mich gefunden. Ich wohnte in einem Viertel in Helsinki, wo ich nur durch eine Unterführung zu gehen brauchte und am Meer war. Dort, in einem kleinen Seglerhafen, tauchte sie eines Tages auf. Das ist genau so, wie ich es im Roman schildere.

Was verbindet die Heldin Ihres Buches, Adina, mit Leonides, dem Mann, den sie zufällig in einer Nacht in Helsinki in einer Hotelbar, wo sie als Aushilfe arbeitet, trifft und irgendwann liebevoll "Leo, mein Leben" nennt?
Strubel: Recht wenig auf den ersten Blick. Er ist um einiges älter und hat eine steile Karriere als Politikwissenschaftler und estnischer Abgeordneter im EU-Parlament hingelegt, während sie nach einem schlimmen Erlebnis in Helsinki gestrandet ist. Aber beide kommen aus ehemals kommunistischen Staaten. Das verbindet sie in Leonides Augen. Für Adina ist Leo eine vorübergehende Rettung.

Die zarte Liebesgeschichte steht im krassen Kontrast zu dem, was Adina zuvor erlebt hat. Was ist passiert und wie kann sie dennoch "liebesfähig" sein? Oder ist sie es denn?
Strubel: Adina ist durch die Vergewaltigung eine furchtbare Verletzung widerfahren, die verhindert, dass sie sich öffnen kann. Für sie ist Leonides eher ein Moment des Ausruhens, des Luftholens, auch ein Schutz. Er bedrängt sie nicht, ist ein sehr diskreter Mensch, auch wenn er unendlich viel redet. Sie mag ihn, sie fühlt sich wohl bei ihm. Zur Liebe hat sie in dieser Zeit nicht die Nerven, denke ich.

Das Wort Liebe ist ohnehin ein oft missbrauchtes Wort. Was ist Liebe überhaupt?
Strubel: Liebe ist zunächst mal ein Konzept, das wir in unterschiedlichen Jahrhunderten, Ländern, Kulturen und Literaturen und abhängig von der persönlichen Situation immer wieder mit unterschiedlichem emotionalen Inhalt füllen.

Glauben Sie an die Liebe?
Strubel: Ich muss gestehen, ich empfinde sie lieber, als an sie zu glauben.

Das Gespräch führte Mirja-Leena Zauner

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•Antje Rávik Strubel, Blaue Frau, S. Fischer, 428 Seiten, 24 Euro