PNP-Spendenaktion
Geflohen, versklavt, gefoltert: SOS-Programm in Gambia gibt Hoffnung

06.12.2019 | Stand 19.09.2023, 22:56 Uhr

Drei Jahre und drei Monate dauerte das Martyrium seiner Flucht. Dann kam Mamadou Jallow nach Gambia zurück - mit leeren Händen, aber lebend. SOS-Kinderdörfer hat den 25-Jährigen in ein neues Programm aufgenommen, das Rückkehrer integrieren will und ihnen dabei hilft, sich eine Existenz aufzubauen. Mamadou ist dankbar für die Chance: "Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Hoffnung, dass ich in meiner Heimat glücklich werden kann." −Foto: Hedemann

Mamadou Jallow träumte von einem besseren Leben in Europa - und landete auf der Flucht in Libyen in der Hölle, wo er versklavt, gefoltert und erpresst wurde. Dem Tod oft näher als dem Leben kehrte er schließlich am Boden zerstört nach Gambia zurück. Ein neues SOS-Programm für Rückkehrer gibt ihm wieder Hoffnung.

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Als die Folterknechte Mamadou Jallow im Gefängnis in Libyen mit Fäusten, Kabeln, Eisenstangen und Gewehrkolben schlugen, hörte sein Bruder im über 3500 Kilometer entfernten Gambia seine Schreie. Die Schläger hatten Mamadous Bruder angerufen, damit er hören konnte, was sie seinem Bruder antaten. Er sollte wissen: Wenn du nicht zahlst, schlagen wir Mamadou tot! Rund 50 Mal musste sein Bruder sich die unerträglichen Schreie anhören. Erst dann hatte er die geforderten 47.000 Dalasi - umgerechnet rund 1000 Euro - zusammen, die die Menschenhändler für Mamadous Freilassung forderten. Bis dahin folterten sie ihn fast täglich. Drei Monate lang.

Ware für skrupellose Menschenhändler

Ware für skrupellose Menschenhändler Mamadou Jallow, heute 25, ist einer von Zehntausenden jungen Männern, die in ihrer Heimat Gambia keine Perspektive sahen und ihr vermeintliches Wohl in der Flucht nach Europa suchten. Die meisten von ihnen nehmen die Route über den Senegal, Mali, Niger und Algerien, um schließlich im Bürgerkriegsland Libyen in überfüllten und nicht seetauglichen Booten die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer anzutreten. Wie Mamadou fallen sie dabei skrupellosen Menschenhändlern in die Hände. Für die Kriminellen sind die verzweifelten Menschen nichts anderes als eine Ware. Mit erbarmungsloser Brutalität versuchen sie aus den Flüchtlingen soviel Geld wie möglich rauszupressen. Ihren Tod nehmen sie billigend in Kauf.

Viele Menschen, die in Libyen gefoltert werden und sterben, als Sklaven verkauft oder zur Prostitution gezwungen werden, stammen aus dem kleinen Gambia. Mit einem neuen Programm will "SOS-Kinderdörfer weltweit" jetzt jungen Menschen Perspektiven in ihrer Heimat schaffen und sie so von der Flucht abhalten. Rückkehrer sollen nach einer gescheiterten Flucht wieder in die Gesellschaft reintegriert werden. Mamadou Jallow ist einer von ihnen.

Seine Hoffnung: ein guter Job

Als er sich vor fast fünf Jahren auf den sogenannten "Backway" - so wird die illegale Route durch die Wüste und über das Meer nach Europa genannt - machte, dachte Mamadou, dass er einen guten Job in Europa finden würde und seiner Familie, die sich für die teure Flucht schwer verschuldet hatte, schon bald Geld aus Europa zurücküberweisen könne. Es kam anders. Mit dem Bus reiste er bis nach Agadez am südlichen Rand der Sahara im Niger. Dort wurde Mamadou zusammen mit 36 weiteren Flüchtlingen auf der Ladefläche eines Pick-ups zusammengepfercht. Vier Tage und vier Nächte fuhren die Tuareg mit ihrer menschlichen Schmuggelware abseits von befestigten Straßen durch die sengend heiße Wüste. Gerade mal 20 Liter Wasser und ein paar Kekse hatte Mamadou dabei. Fiel jemand erschöpft von der völlig überfüllten Pritsche, blieb er einfach liegen.

Mamadou dachte, dass es nicht schlimmer werden könnte - dann kam er nach Libyen. Er wurde entführt, für ein paar Hundert Dollar von einem Menschenhändlerring an den nächsten verkauft, gefoltert, musste im Gefängnis salziges Wasser trinken, als Sklave bis zur Erschöpfung auf einer Farm arbeiten und wurde krank. Wenn seine Peiniger seinen Bruder anriefen, weinte er und flehte seine Familie nach Geld an. Narben in seinem schmalen Gesicht zeugen noch heute von den Qualen, die er in Libyen erlitt.

"Viele Libyer sind Rassisten. Sie sehen in uns Schwarzen keine Menschen. Sie denken, dass wir wie Maschinen arbeiten können. Ohne Wasser, ohne Essen, ohne Schlaf. Sie foltern uns ohne Reue. Ich verstehe einfach nicht, wie Menschen anderen Menschen so etwas antun können", sagt Mamadou über seine schmerzvollen Erfahrungen in Libyen.

Vier Mal bestieg er ein Boot, vier Mal sollte er scheitern

Doch knapp zwei Jahre nachdem er seine Heimat verließ, schien er seinem Ziel - Europa - endlich näherzukommen. 1500 Dinar, umgerechnet 950 Euro, zahlte er Schleusern dafür, dass sie ihn in einem Boot nach Europa bringen sollten. Drei Wochen wartete er in einem der vielen Camps an der libyschen Küste auf ruhige See. Mamadou konnte sich nur ein Ticket für den November leisten, wenn das Mittelmeer rau und kalt und die Preise der Schlepper etwas günstiger sind. Nachts um 1 Uhr legte das mit 125 Männern und Frauen völlig überladene Schlauchboot im Schutz der Dunkelheit mit Kurs Europa ab. Doch Mamadou sollte dort nie ankommen.

Schon bald drang Wasser in das schrottreife Boot ein. Die Flüchtlinge mussten umkehren. Nach einer sechsstündigen Irrfahrt wurden sie von der libyschen Küstenwache gerettet. "Gerettet ist eigentlich nicht der richtige Ausdruck. Die Männer von der Küstenwache sind Verbrecher. Sie haben uns sofort an andere Menschenhändler verkauft", berichtet Mamadou. Sein Martyrium begann von vorne.

Insgesamt vier Mal bestieg Mamadou in Libyen ein Schleuserboot, vier Mal wurde er von der libyschen Küstenwache "gerettet". Dann konnte Mamadou nicht mehr. Nachdem er so oft beinahe gestorben war, war sein Traum von Europa gestorben.

"Meine Familie war sehr glücklich, mich wiederzusehen"

Drei Jahre und drei Monate nachdem er seine Heimat mit großer Hoffnung verlassen hatte, bestieg er in der libyschen Hauptstadt Tripolis ein Flugzeug der Internationalen Organisation für Migration der Vereinten Nationen. Es brachte ihn und 110 weitere Gambier zurück in ihre Heimat. "Meine Familie war sehr glücklich, mich wiederzusehen. Sie waren froh, dass ich überlebt hatte. Auch wenn ich mit leeren Händen zurückkam", sagt Mamadou.

Nicht alle Rückkehrer werden nach einer gescheiterten Flucht von ihren Familien so herzlich empfangen wie Mamadou. "Oft gelten sie als Verlierer, die ihre Familie enttäuscht haben, und werden stigmatisiert. Entsprechend traumatisiert sind sie, manche sind sogar suizidal. Unser Programm bemüht sich darum, diese Menschen wiederaufzurichten und stark zu machen", sagt Marie Chorr Bah, die bei "SOS-Kinderdörfer weltweit" das Programm leitet, das Rückkehrern bei der Reintegration helfen, aber vor allem gefährdete Jugendliche von einer Flucht aus Verzweiflung abhalten soll.

Das SOS-Programm unterstützt Jugendliche unter anderem dabei, eine Ausbildung zum Schweißer, Tischler oder Schneider zu machen oder sich mit einem durchdachten Businessplan und einem zinslosen Kredit als Startkapital als Kleinunternehmer selbstständig zu machen. Zudem hilft es jungen Menschen bei der Familienplanung und will so vor allem Mädchen vor ungewollten Schwangerschaften und Kinderehen schützen. Ein Viertel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind junge Menschen, die - wie Mamadou - bereits mindestens eine vereitelte Flucht hinter sich haben.

"Hätte ich das Geld bloß in meiner Heimat investiert"

Auch die Erfahrungsberichte der Rückkehrer sollen andere Teilnehmer von der illegalen Migration abhalten. "Ich rate jedem davon ab, zu fliehen. In Libyen werden fast alle Flüchtlinge gefoltert und versklavt. Die meisten Frauen werden vergewaltigt. Viele sterben. Dass ich geflohen bin, war ein riesiger Fehler. Hätte ich das Geld in meiner Heimat investiert, ginge es meiner Familie jetzt gut", glaubt Mamadou.

Obwohl er gescheitert ist, ist er nicht verzweifelt. Nicht mehr. Das liegt vor allem am neuen SOS-Programm. Mamadou sagt: "Das Programm ist für mich eine große Chance. Ich will danach eine Bäckerei eröffnen. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich die Hoffnung, dass ich in meiner Heimat glücklich werden kann."