Viktor Hugos Rede zum Friedenskongress 1849
"Der Tag wird kommen, an dem die Waffen auch von euren Händen fallen werden!"

24.06.2019 | Stand 20.09.2023, 3:31 Uhr

Frieden unter den Menschen ist der Wille Gottes – sagte der französische Schriftsteller Victor Hugo 1849 in seiner Rede zum Pariser Friedenskongress. Hier spricht Schauspieler Stefan Sieh Hugos Rede bei den Festspielen Europäische Wochen Passau in der evangelischen Stadtpfarrkirche St. Matthäus. −Foto: EW

Nachdem Napoleon Europa mit seinen Kriegen überzogen hatte, keimte die Überzeugung, dass der Friede laute öffentliche Fürsprache benötige – zumal es bis heute Säbelrassler erheblich leichter haben, sich Gehör zu verschaffen. Darum ist es aller Ehren wert, dass Carsten Gerhard als künstlerischer Leiter Victor Hugos Rede zum Pariser Friedenskongress 1849 an den Beginn der der Festspiele Europäische Wochen Passau 2019 gestellt hat.

Dies ist zum einen eine geglückte Verzahnung mit Hugos "Glöckner" am Samstagabend im Stadttheater, zum anderen ein Statement mit immenser Wirkung aufs Publikum in der St.-Matthäuskirche. Gerahmt von geistlicher Musik des Passauer Studentenchors (Leitung: Marius Sschwemmer) und des Budweiser Kammerchors Dyškanti unter Martin Horyna (beide sollen 2020 zusammen bei den EW konzertieren) trug Landestheater-Niederbayern-Schauspieler Stefan Sieh jene Rede vor, in der erstmals das Projekt des geeinten Europas formuliert wurde. Ihm gelingt dies ohne Pathos, mit natürlicher, jugendlich entflammter Überzeugungskraft und in einem wunderbaren Maß zwischen Lebendigkeit und historischer Distanz.

Hugo spricht vermeintlich Undenkbares aus: So, wie einst sich bekriegende Regionen zu einer französischen Nation zusammengefunden haben, so werden die Nationen Europas sich "in einer höheren Einheit eng verschmelzen". Zwei Weltkriege später ist seine Utopie in der EU zum Teil wahr geworden. Bis zur wahren Brüderlichkeit und bis Kanonen ausschließlich noch im Museum stehen, braucht es offensichtlich weitere Utopien.

− rmr



Die Rede im Wortlaut"Meine Herren,

viele unter Ihnen kommen aus den entferntesten Orten der Erde. Unter Ihnen sind Publizisten, Philosophen, Geistliche, prominente Schriftsteller, viele jener bemerkenswerten Menschen, jener bekannten und beliebten Menschen, die die Lichter ihrer Nation sind. (…)

Sie haben das letzte und erhabenste Blatt des Evangeliums sozusagen umgeblättert, jenes das den Frieden den Kindern Gottes auferlegt, und, in diese Stadt, die erst die Brüderlichkeit der Staatsbürger verordnet hat, kommen Sie, um die Brüderlichkeit der Menschen auszurufen.

Seien Sie willkommen! (…)

Meine Herren, dieser religiöse Gedanke, der allgemeine Frieden, alle Nationen untereinander vereint, das Evangelium zum obersten Gesetz, die Mediation an Stelle des Krieges, dieser religiöse Gedanke ist er ein praktischer Gedanke? (…). Für mein Teil, antworte ich, antworte ich ohne zu zögern: Ja! Und ich will versuchen, dies hier unverzüglich zu beweisen.
Ich gehe einen Schritt weiter; ich sage nicht nur: es ist ein erreichbares Ziel, ich sage: es ist ein unvermeidliches Ziel; man kann sein Erreichen hinausschieben oder beschleunigen, sonst nichts.
(…)

Wenn Sie diese höchsten Wahrheiten behaupten, ist es ganz einfach, dass Ihre Behauptung auf Verneinung trifft; ist es ganz einfach, dass Ihr Glaube auf Unglauben trifft; ist es ganz einfach, dass in dieser Stunde der Unruhen und Zerrissenheit, die Idee des allgemeinen Friedens überrascht und schockiert, fast so wie das Erscheinen des Unmöglichen und des Ideals; ist es ganz einfach, dass man sie als Utopie bezeichnet (…).
Meine Herren, Wenn jemand vor vierhundert Jahren, als der Krieg von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, von Landesteil zu Landesteil geführt wurde, wenn jemand Lothringen, der Picardie, der Normandie, der Bretagne, der Auvergne, der Provence, dem Dauphiné, dem Burgund gesagt hätte: der Tag wird kommen, an dem Ihr keinen Krieg mehr führen werdet, der Tag wird kommen, an dem Ihr keine bewaffneten Männer mehr ausheben werdet, der Tag wird kommen, an dem man nicht mehr sagen wird: die Normannen haben die Picards angegriffen, die Lothringer haben die Burgunder zurückgeschlagen. Ihr werdet wohl weiter Differenzen zu regeln, Interessen zu diskutieren, Konflikte zu lösen haben, aber wisst Ihr, was Ihr an Stelle der bewaffneten Männer setzen werdet? Wisst Ihr, was Ihr an Stelle von Fussvolk und Kavalleristen, Kanonen, Geschütze, Lanzen, Spiesse, Schwerter setzen werdet? Ihr werdet einen Tannenholzkasten hinstellen, die Ihr Wahlurne nennen werdet, und was wird aus diesem Kasten herauskommen? Eine Versammlung, in der Ihr das Leben erleben werdet, eine Versammlung, die Euer aller Seele sein wird, ein Souverän und Volkskonzil, welches alles gesetzlich beschliessen und lösen wird, welches das Schwert aus allen Händen fallen und die Gerechtigkeit in allen Herzen aufkommen lässt, welches allen sagen wird: Hier endet dein Recht, hier fängt deine Pflicht an. Nieder mit den Waffen! Lebt in Frieden! (…)
Wenn jemand dies damals gesagt hätte, meine Herren, hätten alle positiven Männer, alle seriösen Menschen, alle grossen Politiker aufgeschrien: "Welch ein Träumer! Was für ein Phantast! Wie wenig dieser Mann die Menschheit doch kennt!"
Meine Herren, die Zeit ist vorwärts geschritten und dieses Hirngespinst ist Wirklichkeit geworden. (…)
Nun ! Heute sagen Sie, und ich gehöre zu jenen, die mit Ihnen sagen, alle, die wir hier sind, sagen den Ländern Frankreich, England, Preussen, Österreich, Spanien, Italien, Russland: Der Tag wird kommen, an dem die Waffen auch von Euren Händen fallen werden! Der Tag wird kommen,
an dem der Krieg zwischen Paris und London, zwischen Petersburg und Berlin, zwischen Wien und Turin so absurd scheinen und unmöglich sein wird, wie er heute zwischen Rouen und Amiens, zwischen Boston und Philadelphia unmöglich sein und absurd scheinen würde.
Der Tag wird kommen, an dem Ihr Frankreich, Ihr Russland, Ihr Italien, Ihr England, Ihr Deutschland, Ihr alle Nationen des Kontinents – ohne Eure unterschiedlichen Eigenschaften und Eure glorreiche Eigenheit zu verlieren -, Ihr Euch in einer höheren Einheit eng verschmelzen werdet und dabei die europäische Brüderlichkeit bilden, genau so wie die Normandie, die Bretagne, der Burgund, Lothringen, das Elsass, alle unsere Landteile sich in Frankreich verschmolzen haben. Der Tag wird kommen, an dem es keine weiteren Schlachtfelder mehr geben wird, ausser dem sich dem Handel öffnenden Markt und dem sich den Ideen öffnenden Verstand. Der Tag wird kommen, an dem Kanonenkugeln und Bomben durch Abstimmungen, durch das allgemeine Wahlrecht, durch die ehrwürdige Schiedsgerichtsbarkeit eines grossen souveränen Senats ersetzt werden, der für Europa das sein wird, was das Parlament für England, was der Bundestag für Deutschland und das legislative Parlament für Frankreich ist!

Der Tag wird kommen, an dem man die Kanonen in den Museen zeigen wird, wie man dort heute ein Folterinstrument zeigt, sich wundernd, dass es so etwas gegeben haben kann. (…)

Und auf diesen Tag, wird man nicht vierhundert Jahre warten müssen, denn wir leben in einer schnellen Zeit, wir leben im reissendsten Strom von Ereignissen und Ideen, der je Völker mitgerissen hat, und heute bewirkt ein Jahr manchmal so viel wie ein ganzes Jahrhundert.
Und, wir Franzosen, Engländer, Belgier, Deutsche, Russen, Slawen, Europäer, Amerikaner, was haben wir zu tun, um so schnell wie möglich an diesen Tag zu gelangen? Uns zu lieben.

Uns zu lieben ! In diesem riesigen Werk der Befriedung ist es die beste Art, Gott zu helfen!
Denn Gott will dieses erhabene Ziel! Und seht, was er allerseits macht, um dies zu erreichen! Seht, wie viele Entdeckungen er aus dem menschlichen Geist herausbringt, die alle dieses Ziel anstreben, den Frieden! (…) Wie die Kriegsgründe verschwinden und mit ihnen die Leidensgründe! Wie die entfernten Völker sich begegnen! Wie die Entfernungen sich einander nähern! Und Annäherung, das ist der Anfang der Brüderlichkeit!
Dank der Eisenbahnen wird Europa bald kaum grösser sein, als Frankreich im Mittelalter war! Dank der Dampfschiffe überquert man heute den Ozean leichter als früher das Mittelmeer! Bald wird der Mensch die Erde durchqueren, wie die Götter Homers den Himmel durchquerten, in drei Schritten! Noch ein paar Jahre und das elektrische Kabel der Eintracht wird die Erde umringen und die Welt umarmen.
Hier, meine Herren, wenn ich dies alles vertiefe, dies breite Zusammenwirken von Bestrebungen und Ereignissen, alle von Gottes Finger gezeichnet; wenn ich an dieses wunderbare Ziel, an das Wohlergehen der Menschen, an den Frieden denke; (…) kommt mir ein schmerzlicher Gedanke in den Sinn.
Er kommt von den vergleichenden Statistiken und Budgets, welche die europäischen Nationen jedes Jahr für den Unterhalt ihrer Armeen ausgeben: eine Summe von etwa zwei Milliarden, die, wenn man den Unterhalt des Kriegsmaterials dazurechnet, auf drei Milliarden kommt. Fügt man hinzu das verlorene Produkt verlorener Arbeitstage von mehr als zwei Millionen Männern, die gesundesten, die stärksten, die jüngsten, die Elite der Bevölkerung, ein Produkt, das Sie nicht unter eine Milliarde schätzen können, so kommen Sie zum Schluss, dass die ständigen Armeen Europa jährlich vier Milliarden zu stehen kommen. Meine Herren, der Friede dauert nun zweiunddreissig Jahre und in zweiunddreissig Jahren wurde die ungeheuerliche Summe von hundertachtundzwanzig Milliarden in Friedenszeiten für den Krieg ausgegeben! Nehmen Sie an, dass die Völker Europas, anstatt sich gegenseitig zu misstrauen, sich gegenseitig zu beneiden, sich zu hassen, sich geliebt hätten: nehmen Sie an, sie hätten sich gesagt, dass bevor man Franzose oder Engländer oder Deutscher ist, man Mensch ist, und dass, wenn die Nationen Heimat bedeuten, die Menschheit eine Familie ist; und nun diese Summe von hundertachtundzwanzig Milliarden, so wahnsinnig und unnötig durch Misstrauen ausgegeben, geben Sie sie aus durch Vertrauen! Diese hundertachtundzwanzig Milliarden dem Hass gegeben, geben Sie sie der Eintracht! Diese hundertachtundzwanzig Milliarden dem Krieg geben, geben Sie sie dem Frieden! Geben Sie diese Summe der Arbeit, der Intelligenz, der Industrie, dem Handel, der Schifffahrt, der Landwirtschaft, den Wissenschaften, den Künsten und stellen Sie sich das Ergebnis vor. Wenn seit zweiunddreissig Jahren diese gigantische Summe von hundertachtundzwanzig Milliarden in solcher Weise ausgegeben worden wäre, und dazu Amerika Europa geholfen hätte, wissen Sie was sich ereignet hätte? Die Welt hätte sich verändert! (…) Der Reichtum würde von überall her aus allen Venen der Erde der Arbeit der Menschen entspringen und das Elend würde verschwinden! Und wissen Sie, was mit dem Elend verschwunden wäre? Die Revolutionen. Ja, die Welt hätte sich verändert! Anstatt sich untereinander zu zerfleischen, würde man sich friedlich über die Erde verteilen! Anstatt Revolutionen zu machen, würde man Kolonien gründen! Anstatt die Barbarei der Zivilisation zu bringen, würde man die Zivilisation der Barbarei bringen.
Sehen Sie, meine Herren, mit welcher Blindheit die Beschäftigung mit dem Krieg die Nationen und die Regierenden schlägt: wenn diese hundertachtundzwanzig Milliarden, die durch Europa einem Krieg, der nicht existierte, gegeben wurden, stattdessen dem Frieden, der existierte, gegeben worden wären, lassen Sie mich sagen, lassen Sie es mich laut sagen, würde man in Europa nichts davon sehen, was man jetzt sieht: einen Kontinent, der statt eines Schlachtfeldes, eine Werkstatt wäre (…); das Elend, die Trauer, den Bürgerkrieg, eine dunkle Zukunft; statt dieses traurigen Bildes, hätten wir vor den Augen Hoffnung, Freude, Wohlwollen, das Bestreben aller zugunsten des Gemeinwohles, und wir würden sehen, wie aus der arbeitenden Zivilisation die erhabene Ausstrahlung der allgemeinen Eintracht überall aufleuchten würde.

Dies sollten wir bedenken! Unsere Vorsichtsmassnahmen gegen den Krieg haben die Revolutionen hervorgebracht! Man hat alles getan, alles ausgegeben gegen eine erdachte Gefahr! Man hat das Elend verschlimmert, die eine reale Gefahr war! Man hat Befestigungen errichtet gegen eine trügerische Gefahr; man hat Kriege gesehen, die nicht kamen, und Revolutionen nicht gesehen, die kamen.
Meine Herren, verzweifeln wir trotzdem nicht. Im Gegenteil, hoffen wir, mehr denn je! Lassen wir uns nicht erschrecken von den momentanen Erschütterungen, diese vielleicht notwendigen Stösse der grossen Geburtswehen (…). Dies ist eine aussergewöhnliche und bewundernswerte Zeit (…) und das neunzehnte Jahrhundert wird, lassen Sie es mich laut sagen, die grösste Seite der Geschichte werden. Wie ich es vorhin sagte, alle Fortschritte erscheinen hier gleichzeitig, indem die einen die anderen hervorbringen: Verschwinden der internationalen Feindschaften, Löschen der Grenzen auf der Landkarte und der Vorurteile in den Herzen, Tendenz zur Einigkeit, Milderung der Sitten, Erhöhung des Unterrichtsniveaus und Senkung der Strafniveaus, Vorherrschaft der literarischsten d.h. der menschlichsten Sprachen; alles bewegt sich zugleich, politische Wirtschaft, Wissenschaft, Industrie, Philosophie, Gesetzgebung, und strebt einem gleichen Ziel zu, der Schaffung von Wohlbefinden und Wohlwollen, d.h. – und dies ist das Ziel, das ich für mein Teil immer anstreben werde – der Auslöschung des Elends innen und der Auslöschung des Krieges aussen.

Ja, ich sage es zum Schluss, die Zeit der Revolutionen schliesst sich, die Zeit der Verbesserungen fängt an. Die Vervollkommnung der Völker verlässt die gewaltsame Art und nimmt dafür die friedliche Art an; die Zeit ist gekommen, wo die Vorsehung die chaotische Handlung der Aufwiegler durch die religiöse und ruhige Handlung der Friedensstifter ersetzt.
In Zukunft wird das Ziel der grossen Politik, der wirklichen Politik folgendermassen sein : alle Nationalitäten anerkennen, die historische Einheit der Völker wiederherstellen und diese Einheit mittels Frieden der Zivilisation zuführen, ständig den zivilisierten Kreis erweitern, den noch barbarischen Völkern ein gutes Beispiel geben, die Schiedsgerichtsbarkeit an die Stelle von Schlachten setzen; schliesslich, und dies fasst alles zusammen, das letzte Wort, das in der alten Welt die Gewalt aussprach, durch die Gerechtigkeit verkünden lassen.

Meine Herren, ich sage es abschliessend – und dieser Gedanke soll uns ermutigen -, die Menschheit ist auf diesem von der Vorsehung bestimmten Weg nicht erst seit heute unterwegs. Im alten Europa, hat England den ersten Schritt getan und durch sein jahrhundertelanges Beispiel den Völkern gesagt: Ihr seid frei. Frankreich hat den zweiten Schritt getan und den Völkern gesagt: Ihr habt die Souveränität. Machen wir nun den dritten Schritt und alle gemeinsam, Frankreich, England, Belgien, Deutschland, Italien, Europa, Amerika, sagen wir den Völkern: Ihr seid Brüder!"

Zitiert nach IFOR Schweiz, dem Schweizer Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes
www.ifor-mir.ch/de