Verfilmung des Mega-Bestsellers
"Der Gesang der Flusskrebse": Die Kraft des Überlebens

16.08.2022 | Stand 21.09.2023, 1:26 Uhr
Martin Schwickert

Das geschmackvoll eingerichtete Holzhaus inmitten der Wasserwälder und die gediegene Garderobe des "Marschmädchens" Kaya entsprechen sicherlich nicht den Authentizitäts-Standards, aber die stille und kraftvolle Performance von Daisy Edgar-Jones wiegt solche Schwächen der Bestseller-Verfilmung "Der Gesang der Flusskrebse" wieder auf. −Foto: Michele K. Short/Sony Pictures/dpa

Eines Tages hält die Mutter es nicht mehr aus. Mit Blutergüssen und Platzwunden im Gesicht, die vom letzten Gewaltausbruch ihres Mannes zeugen, macht sie sich im Morgengrauen davon. Zurück bleiben die Kinder, die in den kommenden Wochen und Monaten nacheinander ebenfalls die Flucht ergreifen. Schließlich ist die sechsjährige Kaya allein mit dem alkoholkranken Vater. Sie ist noch zu jung, um sich aus dem Staub zu machen, hat aber gelernt, den Wutausbrüchen aus dem Weg zu gehen und flüchtet sich in die weite Marschlandschaft North Carolinas. Aber irgendwann ist auch der Vater verschwunden. Das Mädchen ist auf sich gestellt und muss lernen in der Natur zu überleben.



Der Roman "Der Gesang der Flusskrebse" von Delia Owens führte 2019 und 2020 die internationalen Bestseller-Listen an. Es ist ein Buch über die Brutalität des Verlassenseins und die Kraft des Überlebens, die ein kleines Mädchen aufbringen muss und zu einer jungen Frau reifen lässt. Aber es ist auch ein Buch über eine unvergleichliche Landschaft in der Küstenregion North Carolinas, wo die Grenzen zwischen Land und Wasser zerfließen.

Die eindrückliche Naturkulisse ist auch der zweitwichtigste Hauptdarsteller in der Kinoadaption von Olivia Newman. Mit ungebändigter Faszination lässt sich die Kamera auf dieses unwirkliche Biotop ein, das gleichermaßen wie eine sonnendurchflutete Fantasy-Kulisse und ein bedrohlicher Märchenwald wirkt.

Aber die eigentliche Protagonistin ist natürlich Kaya (Daisy Edgar-Jones), die als junge Erwachsene im Jahr 1969 angeklagt wird, den örtlichen Football-Star und Sohn aus gutem Hause Chase Andrews (Harris Dickinson) ermordet zu haben. Im Ort ist man sich schnell einig, dass die junge Außenseiterin, die von allen nur "das Marschmädchen" genannt wird, den Mord begangen haben muss. Der pensionierte Rechtsanwalt Tom Milton (David Strathairn) scheint als Einziger an die Unschuld Kayas zu glauben. Um sie verteidigen zu können, müsse er sie besser kennenlernen, sagt der Jurist. Und so gleitet die Erzählung in regelmäßige Rückblenden hinein, in denen die Lebensgeschichte des "Marschmädchens" aufgeblättert wird.

Wie so oft bei Verfilmungen von erfolgreichen Bestsellern bleibt auch Regisseurin Olivia Newman sehr nah an der Buchvorlage dran. Werktreue ist in diesem Fall kein Fehler, denn Owens Roman, der ein klassisches Justizdrama mit einer unkonventionellen Coming-of-Age-Geschichte verbindet, ist ohnehin schon sehr nah am filmischen Erzählen aufgebaut.

Und so entwickelt auch die Kinoversion eine konventionelle Strahlkraft, die durch sorgfältig orchestrierte Naturaufnahmen bereichert wird. Die Härte der traumatischen Kindheitserlebnisse wird kurz, aber effizient angerissen und das Leben in der Abgeschiedenheit der Natur hoffnungslos romantisiert.

Aber die stille und kraftvolle Performance von Daisy Edgar-Jones wiegt solche Schwächen wieder auf. Vollkommen unangestrengt gelingt es ihr die Figur den Naturkindfrau-Stereotypen zu entreißen und deren weibliche Überlebensintelligenz sichtbar zu machen – was dann auch die überraschende Schlusswendung im Epilog absolut stimmig erscheinen lässt.

Martin Schwickert

• USA 2022, von Olivia Newman, mit Daisy Edgar-Jones, 125 Minuten, frei ab 12 Jahren