Premiere an der Staatsoper Wien
Besser ein Polizist als ein Dauer-Looser: "Wozzeck" der Gegenwart

22.03.2022 | Stand 20.09.2023, 1:24 Uhr
Reinhard Kriechbaum

Wozzeck (Christian Gerhaher) verliert sich immer mehr in seine Wahnvorstellungen − und verschreckt damit seine Angebetete Marie (Anja Kampe). −Foto: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn

Wozzeck als Prototyp des Arbeits-Prekariats heute? Viele Menschen halten sich mit mehreren Nebenjobs über Wasser, und diese "McJobs" sind selten dazu angetan, das Selbstwertgefühl entscheidend aufzumöbeln. Das darf natürlich kein Argument und schon gar keine Entschuldigung dafür sein, dass Zurücksetzung in Beziehungsfrust und gar in einen Femizid münden. Aber psychische Fehl-Lenkung kann natürlich auch daher rühren.

Simon Stone, Regisseur der neuen Wozzeck -Produktion an der Wiener Staatsoper, bringt die Figur in heutiger Wiener Lebensrealität nahe. Wozzeck muss sich fühlen wie im Hamsterrad. Die Bühne mit vier identischen Schauseiten, dreht sich in einem fort. Triste Realität – die Schlange von Wartenden im Arbeitsamt etwa – nimmt kein Ende. Wozzeck taumelt, torkelt, schleppt sich von Szene zu Szene. Vergeblich sein Versuch, das Leben – ein lebenswertes Leben – einzuholen.

Wer wollte Marie nicht verstehen, die herzlich wenig anfangen kann mit diesem Looser und sich lieber dem Tambourmajor (in dieser Inszenierung in österreichischer Polizistenuniform) hingibt. Für Marie gilt: Besser ein Mann in Fixanstellung als der allmählich zerbrechende Wozzeck. Das gibt ihm den Rest. Die Drehbühne besteht jetzt aus vier Schlafzimmern, und der wahnbesessene Wozzek sieht Marie es in jedem der Betten mit dem Tambourmajor treiben.

Ganz zwanglos holt Simon Stone den Wozzeck aus dem militärischen Umfeld in die Jetztzeit. Er spart nicht mit geradlinigen Klischeebildern. Die Szenenfolge zwischen Würstelstand, Fitnessstudio und U-Bahnstation lässt manchmal an einen Cartoon denken. Kein überschüssiges Ausstattungsdetail im Bühnenbild von Bob Cousins.

Philippe Jordan und das Staatsopernorchester bereiten die Partitur von Alban Berg sehr strukturbewusst und zudem mit feinen Details, zugleich mit unvergleichlichem Wiener philharmonischen Schmelz auf. Es spricht aus dieser Musik nicht nur das epochal Neue, sondern auch die tiefe Verwurzelung in der Tradition – genau dieses "vom Einst zum Heute", auf das Simon Stone in seiner Visualisierung setzt, wirkt musikalisch gut rückgebunden. Der analytische Blick des Dirigenten und seine Fähigkeit, auf die besonderen Angebote seiner Instrumentalisten zu hören und sie seiner Interpretation dienlich zu machen, bleiben besonders im Gedächtnis.

Das Geschehen im Orchestergraben stiehlt nicht selten den Sängern die Show. Christian Gerhaher ist Wozzeck. Der intensive Liedgestalter, der abonniert ist auf schattige, leicht depressiv anmutende Programme, stattet seine Rolle mit gediegenen Farben zwischen leisem Aufbegehren und einem verzagten Sich-Hineinsteigern in Wahnvorstellungen aus. Das dürfte auf der Bühne plakativer ausfallen. Anja Kampe ist eine Marie, die mit beiden Beinen im Leben steht, stimmliche Geradlinigkeit und zielgerichtetes Spiel gehen gut zusammen. Sean Panikkar (Tambourmajor), Jörg Schneider (Hauptmann), Dmitry Belosselskiy (Doktor), Josh Lovell (Andres), Thomas Ebenstein (Bass), Christina Boch (Margret) – lauter Rollendebüts an der Staatsoper. Was die Textverständlichkeit anlangt, ist viel Luft nach oben.

Reinhard Kriechbaum

Aufführungen bis 3. April, Karten: www.wiener-staatsoper.at