Berlin
Deutliche Mahnungen an Berlin

Sachverständige warnen vor Verwässerung der Agenda 2010 – Brüssel nimmt Außenhandelsüberschuss unter die Lupe

13.11.2013 | Stand 02.12.2020, 23:26 Uhr

Berlin (AFP) Inmitten der Koalitionsverhandlungen haben die „Wirtschaftsweisen“ eine klare Warnung an die künftige Regierung ausgesandt: Die Reformen der Agenda 2010 dürfen nicht rückgängig gemacht werden. Unter Druck gerät Berlin auch durch die EU-Kommission wegen der hohen Exportüberschüsse.

Der Sachverständigenrat der fünf führenden deutschen Wirtschaftsforscher beurteilt die Lage der deutschen Wirtschaft aktuell als gut und erwartet einen „lang anhaltenden Aufwärtstrend“, wie der Vorsitzende des Gremiums, Christoph Schmidt, gestern in Berlin sagte. Für das kommende Jahr erwarten die Wirtschaftsforscher ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 1,6 Prozent, nach einem Plus von voraussichtlich 0,4 Prozent im laufenden Jahr. Die gute Lage müsse nun zur Konsolidierung genutzt werden, erklärten die Wirtschaftsforscher und warnten vor einer „rückwärtsgewandten Wirtschaftspolitik“.

Die Sachverständigen warnten daher eindringlich davor, die Reformen der Agenda 2010, „die uns erfolgreich gemacht haben, erfolgreich auch durch die Krise geführt haben, zu verwässern oder in Teilbereichen zurückzunehmen“. So griff die Mehrheit des Sachverständigenrates zahlreiche in den Koalitionsverhandlungen diskutierte Maßnahmen an – etwa die Mütterrente, eine Aufstockung niedriger Renten sowie Ausnahmen von der Rente mit 67. Diese gingen überwiegend zu Lasten der kommenden Generationen, so die Kritik.

Uneins waren sich die Experten in der Frage des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. Die Mehrheit sehe dafür nicht den sozialpolitischen Bedarf, sagte Schmidt. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger sieht dies anders: Ein Mindestlohn von 8,50 Euro sei „vertretbar“, sagte er.

Der anhaltend hohe Exportüberschuss Deutschlands und die Folgen für Europas Wirtschaft sind wie erwartet ins Visier der EU-Wettbewerbshüter geraten. Kommissionschef José Manuel Barroso kündigte gestern in Brüssel eine eingehende Prüfung seiner Behörde an.

Es solle untersucht werden, ob Deutschland mehr tun könne, um die wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den EU-Ländern zu verringern. Als mögliche Schritte nannte der Kommissionschef eine Stärkung der Binnennachfrage und eine Öffnung des Dienstleistungssektors.

Im vergangenen Jahr exportierte Deutschland Waren im Wert von knapp 1096 Milliarden Euro und führte Güter für fast 906 Milliarden Euro ein. Der Überschuss in der Außenhandelsbilanz betrug 2012 somit 190 Milliarden Euro.

Nach den EU-Regeln darf der Außenhandelsüberschuss eines Landes im Durchschnitt von drei Jahren nicht über sechs Prozent liegen. Deutschlands Exportplus übersteigt jedoch seit 2006 diesen Wert – und wird dies laut EU-Kommission auch bis mindestens 2015 tun. Im kommenden Frühjahr will die Kommission mitteilen, ob der deutsche Exportüberschuss ein übermäßiges wirtschaftliches Ungleichgewicht darstellt. In letzter Konsequenz kann die Überprüfung zu Strafzahlungen in Höhe von 0,1 Prozent der Wirtschaftsleistung führen.

In Deutschland stieß das Vorgehen der Kommission auf heftige Kritik. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Gruppe im EU-Parlament, Herbert Reul, sagte: „Ausgerechnet die europäische Konjunkturlokomotive bremsen zu wollen, würde ganz Europa zurückwerfen.“ Die Untersuchung dürfe auf keinen Fall zu einer Schwächung Deutschlands führen, warnte der FDP-Chef im EU-Parlament Alexander Graf Lambsdorff.