Im Norden Islands werden Sagengestalten lebendig

01.11.2014 | Stand 01.11.2014, 8:00 Uhr

Auf einsamer Straße durch die Natur Islands: Reisende begegnen hier allerhöchstens ein paar Schafen. − Fotos: Sandra Niedermaier

Solveig gibt Gas. Mit beiden Händen hält sie das Lenkrad und manövriert den Bus durch das dichte Schneetreiben den Berg hinauf. Über Nacht ist über Islands Norden der Winter hereingebrochen. Für Stunden ist der Bus das einzige Fahrzeug auf der Straße. Nur nicht langsamer werden, nur nicht zur Seite schauen, scheint die Busfahrerin zu denken und streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Denn der Sage nach lockt eine kopflose Isländerin bei Nebel und schlechtem Wetter am Straßenrand Reisende in die Irre. Holpernd prescht der Bus über Eisbrocken, durch Schneematsch. In der Ferne flackern tröstlich die Lichter einzelner Gehöfte. Einsam ist es hier, im Norden Islands, hundert Kilometer von der nächsten größeren Stadt Akureyri entfernt. Und kalt.

Heißer Wasserdampf schießt aus dem BodenNur 60 Kilometer liegt der Norden des Landes vom Polarkreis entfernt, der Wind bringt Schnee und Kälte. Solveig reibt sich fröstelnd die Hände und blickt zum Himmel. Sie sagt etwas auf Isländisch, in der Sprache, in der die Vokale so frei klingen. Und während es über der Erde abwechselnd regnet und schneit, kocht und brodelt es unter der Erde. In Teufels Küche. So heißt der erste Halt, das Hochtemperaturgebiet am Fuß des Vulkans Námafjall. Heiß ist das Wasser in den Schlammquellen. Es wirft Blasen. Und es riecht nach Schwefel. Alle paar Meter schießt heißer Wasserdampf mit der Gewalt und dem Lärm Hunderter Dampfkochtöpfe aus dem Boden. In tausend Metern Tiefe ist es mehr als 200 Grad heiß. Kaltes Grundwasser sickert durch Spalten und Risse hinunter zum heißen Gestein – und steigt als Dampf wieder auf. Die Schwefelsäure zersetzt Boden und felsigen Grund zu einem lehmigen Schlamm. An den Quellen warnen Schilder: "Vorsicht! Die dünne Erdkruste kann leicht einbrechen." Nochmal gutgegangen.

Weiter geht die Fahrt. Busfahrerin Solveig rumpelt über Einlassungen in der Teerstraße, die sich als Ringstraße 1400 Kilometer um das ganze Land zieht. Sie erklärt, dass die Vertiefungen eine Art Schafgatter darstellen. Die Schafe stehen still auf den verschneiten Hügeln. Wie in einer Schneekugel scheinen die Schafe, verwachsen mit der Landschaft. Sind sie festgefroren? Zu Stein geworden, wie es der Legende nach den Trollen ergeht, wenn sie den Tagesanbruch übersehen und Sonnenstrahlen auf sie fallen?

Eine, die den Kampf aufgenommen hat gegen die unwirtliche Natur, gegen die Einsamkeit und die Kälte in Islands Norden, ist die Deutsche Evelyn Ýr (41). Flach und verschlafen liegt plötzlich im Niemandsland ihr Reiterhof Lýtingsstaðir. Seit 19 Jahren lebt die Brandenburgerin mit ihrem Mann Sveinn im Fjord von Skagafjörður. Bei Reitferien verliebte Evelyn sich in den Isländer und blieb. Heute betreibt das Ehepaar gemeinsam den Reiterhof.

Auf 400 Hektar Land züchten sie Islandpferde und Schafe; Evelyn arbeitet nebenbei als Reiseleiterin. Sie lebt ihren Traum, sagt sie – und erkämpft sich jeden Tag ihre Existenz. Mitten im kargen Tal, weit entfernt von aller Zivilisation, hat sie den Hof Gebäude um Gebäude erweitert, Cottages und einen Gemeinschaftsraum für die Feriengäste gebaut. Noch ist nicht alles nach ihren Wünschen. Mit den Bewohnern umliegender Gehöfte kämpft sie um Anschluss an die heißen Quellen – die natürlichste Energiequelle Islands. Weil die Preise in Island seit der Wirtschaftskrise 2008 so hoch sind, hat die gebürtige Brandenburgerin die Werbeprospekte für ihren Reiterhof in Deutschland drucken und verschicken lassen. Leicht ist der Alltag im kalten Norden nicht.

Der Postbote kam auf einem IslandpferdIslandpferde sind kleine, widerstandsfähige Pferde – die einzigen Pferde, die tölten. So bezeichnet man eine schnelle Gangart, bei der man das Auf und Ab der Bewegung kaum spürt, fast zu schweben meint. Die Wikinger brachten im 9. Jahrhundert auf ihren Schiffen kleine, kräftige Pferde mit. In über tausend Jahren entwickelte sich daraus die reinste Pferdezucht der Welt. "Für die Besiedlung Islands waren die Pferde zentral", sagt Evelyn. Im 18. Jahrhundert noch brachten Postboten auf Islandpferden die Briefe – einmal im Jahr. Denn so lange dauerte es, bis sie einmal um die Insel geritten waren.

Solveig kennt Evelyns Geschichte schon. Denn eines bestätigt sich in dem Land, in dem die 320.000 Einwohner nach Vornamen im Telefonbuch gelistet sind: Jeder kennt jeden. Solveig hört zu, nickt gelassen und kaut auf einem Stück getrocknetem Fisch herum. Für ihre Gäste hat Evelyn isländische Spezialitäten zubereitet: Pferdefleisch, von dem es früher hieß, es verleihe göttliche Kräfte, getrockneten Fisch mit Butter. Außerdem gibt es (schwarzes) Zwergwalfleisch, zartes Lamm, Blutwurst und Schmalzgebackenes.

Auf der Rückfahrt nach Akureyri, der Hauptstadt des Nordens, geht es vorbei an den unheilvollen Dämmerburgen, an Pseudokratern, am Götterwasserfall und an heißen Lavaquellen. In den Dämmerburgen sind 13 gefährliche Trolle den Sommer über zu Lavagestein erstarrt. Als sie Fische naschten, übersahen sie voller Gier den herannahenden Tag und versteinerten im Sonnenlicht an Ort und Stelle. Kurz vor Weihnachten erwachen Löffelschlecker, Türschläger, Wurststibitzer, Quark-Gierschlund, Fensterglotzer und wie sie alle heißen jedoch wieder und bringen den Kindern sogar kleine Geschenke, die sie vor die Tür legen. Solveig verrät, wie man die groben Gesellen am besten findet: Einfach laut "Jólasveinar" rufen!

Die Pseudokrater sehen aus wie echte Krater, mitten im See. Entstanden sind sie durch Dampfexplosionen, als brennende Lava auf den See niederging. Der Götterwasserfall ist zwölf Meter hoch. Er heißt so, weil im Jahr 1000 der Häuptling des Ljósavatn-Gebietes entschied, sein Volk solle zum Christentum übertreten, und Bilder von heidnischen Göttern in den Wasserfall warf.

Zu Weihnachten fressen die Trolle MenschenZum Götterwasserfall gibt es eine blutige Geschichte: In der Schlucht hinter den tosenden Wasserfluten sollen riesige Trolle in einer Höhle gelebt haben. Sie stahlen Kühe, und jedes Jahr zu Weihnachten holten sie sich der Legende nach nachts einen Menschen mit dem Messer, um ihn zu verspeisen. Nur Blut blieb an der Haustür zurück, sonst nichts. In ihrer Höhle sammelten sie die Knochen. Solveig zeigt sich unbeeindruckt. Sie weiß schließlich, wie man die starken Trolle überlistet – na klar, mit Sonnenlicht. Wie viele der Lavaberge am Straßenrand einst Trolle waren, das weiß auch sie nicht.

Das Wetter ist besser geworden in den vergangenen Stunden, es nieselt kaum noch. Schneelandschaften wurden von Wiesen und gelben Birkenblättern gegen braun-rötlichen Boden abgelöst. Schon nähert sich der Bus Akureyri vor schneebedeckten Bergen.

INFOAnreisen: Icelandair fliegt ganzjährig ab München zum Flughafen Keflavik nahe der isländischenHauptstadt Reykjavik. Mit einer Propellermaschine geht es weiter nach Akureyri im Norden. Ab München kostet der Flug nach Reykjavik hin und zurück ab 285 Euro, nach Akureyri ab 526 Euro. Mit dem Stopover-Programm können Reisende auf dem Weg nach Kanada oder in die USA ohne Flugaufpreis einen bis zu siebentägigen Stopover in Island einlegen.

Übernachten: Drei-Sterne-Standard wird im Icelandair-Hotel in Akureyri für rund 100 Euro pro Doppelzimmer und Nacht geboten. Icelandair bietet Kurztrips mit Flug, drei Übernachtungen und Frühstück ab 349 Euro pro Person.

Lesen: Der Isländer Arthúr Bollason hat in "Island: Ein Reisebegleiter" Reiserouten durch alle Teile des Landes mit den Sagen Islands verknüpft. Über seine Jugendjahre in Akureyri schreibt Jón Sveinsson in seinen Nonni-Büchern, die als Koproduktion verfilmt und in den 1980er Jahren in Deutschland ausgestrahlt wurden.

Ausflüge: Reitausflüge mit Islandpferden bietet Evelyn Ýr, www.lythorse.com. Unter www.sagatravel.is und www.ttv.is können Touren ab Akureyri durch den Norden − auch mit deutschsprachigem Guide − gebucht werden.

Sandra Niedermaier, Volontärin der Passauer Neuen Presse, recherchierte auf Einladung von Icelandair.