Passau
Greipl: "Kein Metzger mehr, aber ein Dackelmuseum"

04.03.2018 | Stand 20.09.2023, 4:19 Uhr

Von seinem Arbeitszimmer aus hat Egon Johannes Greipl die Altstadt im Blick – doch nicht immer gefällt ihm was er sieht. − Foto: Thomas Jäger

Herr Greipl, Sie haben zuletzt u.a. in der Süddeutschen Zeitung die Entwicklung der Stadt, insbesondere hinsichtlich der Folgen des Massentourismus, sehr kritisch beleuchtet. Passau verkomme zur "Pappkulisse", sagten Sie da. Besonders den Stadtführern ist die Kritik sauer aufgestoßen. Haben Sie denn selbst schon mal eine Führung mitgemacht?

Prof. Dr. Egon Johannes Greipl: Die Stadtführer sind doch gar nicht das Thema. Es geht um die Entwicklung unserer Altstadt! Ich bin in Passau geboren, ich lebe mit meiner Frau in der Passauer Altstadt, und ich habe schon vielen Menschen unsere Stadt gezeigt. Ich kenne die Stadt und ihre Geschichte ziemlich gut – allein wegen meiner Arbeit an der 2014 erschienenen zweibändigen Denkmaltopografie. Meine Kritik richtet sich doch nicht gegen die Fremdenführer – das ist im Rahmen des Themas der Stadtentwicklung nur ein winziger Randaspekt. Es ist gut, dass es die Fremdenführer gibt, man muss nur darauf achten, dass sie eine gewisse Qualität halten.

Können Sie für alle, die die Vorgeschichte nicht kennen, noch einmal erklären, wo für Sie das Problem liegt?

Ich habe kein Problem – die Stadt hat ein Problem: Es gibt keine mittel- bis langfristigen Konzepte. Das trifft nicht nur auf den Bereich des Tourismus zu, sondern auch auf den Verkehr, auf die bauliche Entwicklung, auf den kulturellen Bereich. Ich vermisse Ziele, d. h. die Vision, wie unsere Stadt in 30 Jahren aussehen soll. Ein Beispiel aus dem Feld des Tourismus: Wenn sich die Zahlen so weiterentwickeln, sollen dann im Jahr 2050 pro Jahr 10 Millionen Touristen nach Passau kommen? Die Stadt ist aber noch dieselbe. Wie soll das gehen?

Es geht also eher um die Menge der Touristen?

Nein, es geht um die Beziehung zwischen der Stadt und der Tourismus-Industrie. Wichtig ist: Es würde überhaupt kein Tourist nach Passau kommen ohne die einzigartige Lage, ohne die Denkmäler und die Kunstwerke unserer Stadt. Die Menschen besuchen die Stadt wegen der Schöpfungen, die nicht wir geschaffen haben, sondern die 40 oder 50 Generationen vor uns. Warum verlangen wir von jedem Touristen nicht einen Beitrag, der in einen Fonds fließt und dem Erhalt dessen dient, weswegen Menschen hierher kommen? Aber am meisten bewegt mich die Frage, was mit dem Geist einer Stadt geschieht, die sich von vorne bis hinten ausschließlich auf die Bedürfnisse des Massentourismus einstellt? Anderswo, beispielsweise in Siena, Venedig, Amsterdam ist die kritische Einstellung schon viel weiter gediehen – zu Recht wie ich meine.

Was meinen Sie damit?

Jetzt ist es ja so: Während der Saison im Sommer kommt man in der Altstadt tagsüber fast nicht durch. Überall ragen die roten Gruppenschilder aus einer pilgernden Menge; es ist laut und voll mit älteren Menschen, die das Pflaster nur mit Mühe bewältigen. Und jetzt, im Winter: Da ist unsere Altstadt wie ausgestorben. Die Stadt muss doch auch dann Geist und Leben haben, wenn keine Fremden da sind! Die Demographie der Altstadt ist aus dem Gleichgewicht geraten. Wir haben einen Altstadtkindergarten, aber es gibt keine Altstadtkinder! Alte Leute und Studenten beherrschen das Bild, familiengerechte Wohnungen werden immer mehr zur Mangelware. Hier sind Analysen, qualitative Zielvorgaben und steuernde Maßnahmen der Stadtentwicklung gefragt.

. . .und die Uni?.

Auch an der Universität ist das Motto "Immer mehr". Studenten kommen, wohnen besonders gerne in der Innstadt und der Altstadt und nach zwei bis drei Jahren gehen sie wieder. Es entwickelt sich in der Stadt eine demographische und soziale Monostruktur, und dem Geist der Stadt kommt die Kontinuität abhanden. Es fehlt die Langzeit-Erinnerung an besondere Ereignisse und besondere Menschen, die hier einmal gelebt haben. Wer will in eine Altstadt ziehen, in der er sich mit niemandem unterhalten kann, weil es keine Nachbarn gibt? Wo man ein Auto braucht, um sein tägliches Leben zu gestalten, weil es keinen Metzger mehr gibt, aber ein Dackelmuseum? Ich gehe gelegentlich mit den Leuten von der Michaeligasse zum Rindermarkt und bitte sie, zu zählen, an wie vielen Geschäften wir vorbeikommen, in denen man etwas kaufen kann, was sie im täglichen Leben wirklich braucht. Es ist interessant, was da herauskommt: Fast nichts!

Man kann aber doch den Geschäftsleuten keinen Vorwurf machen, wenn sie eine Nachfrage bedienen, die offensichtlich da ist.

Die Nachfrage mag da sein, aber nicht von den Bewohnern der Stadt. Die haben doch nichts davon, wenn sie eine Kuckucksuhr kaufen können. Ich finde, dass das Image unserer Stadt in keiner Weise von Kuckucksuhren, Schwimmbrezen und Oktober-festhüten profitiert. Passen diese Dinge wirklich zur Würde und zur großen, europäischen Geschichte einer solchen Stadt?

Der Kuckucksuhrenverkäufer hat etwas davon: Er kann so seien Lebensunterhalt bestreiten und macht wahrscheinlich ein gutes Geschäft.

Der Sinn der Lebensform Stadt ist doch nicht, alle nur möglichen Geschäfte mit Fremden zu machen, während die Bedürfnisse derjenigen, die dort wohnen, nicht mehr bedient werden – wenn die Einwohner sich allmählich wie das Inventar eines Freilichtmuseums vorkommen. In Regensburg wird übrigens derzeit ein Konzept erarbeitet, das einer solchen Entwicklung entgegenwirken soll. Das sollten wir in Passau auch versuchen!

Wenn diese "Kulisse" einen modernen, ausgefallenen Anstrich bekommt, dann gefällt Ihnen das aber auch nicht. Sehr kritisiert haben Sie etwa die opulente Weihnachtsdekoration eines Geschäfts am Rindermarkt.

Das war keine Weihnachtsdekoration. Das war auch nicht modern und ausgefallen. Das war nur der Gipfel dessen, wie dieser Platz, der nach dem Residenzplatz zu den schönsten der Stadt gehören könnte, geschändet wird. Die einen halten sich an die Stadtbildsatzung, die der Stadtrat einst einstimmig beschlossen hat, und andere stellen halbe Wohnzimmer, Schirme und Heizpilze hinaus. Ich bin vollkommen gegen die schrankenlose Privatisierung des öffentlichen Raumes!

Aber gerade der Rindermarkt ist doch ein Beispiel für einen öffentlichen Platz, der belebt ist.

Was heißt da belebt? Das Leben an diesem Platz macht aus, dass er so schön ist, dass es eine wunderbare Konditorei gibt, die seit Generationen dort ist. Und es gibt auch eine italienische Eisdiele, ein italienisches Café, einen Käseladen und ein Geschäft für Gewürze aller Art. Aber ist denn der öffentliche Raum gedacht für Autobesitzer, die da ihre Gefährte abstellen? Ist denn der öffentliche Raum da für Leute, die da am Donau- und Innufer Strandkörbe aufstellen? Das ist doch alles von einer beeindruckenden Beliebigkeit und Geschmacklosigkeit.

Oder eben Geschmackssache.

Nein, das ist es nicht. Wenn die 30 Generationen vor uns gesagt hätten: "Mei, dem einen gefällt’s, dem anderen nicht", was glauben Sie, wie die Stadt heute aussehen würde? Es gibt Kriterien für bauliche Schönheit.

Welche Kriterien meinen Sie? Baurechtliche? Kunsthistorische?

Nein, es geht um ästhetische Kriterien, es geht um Schönheit und um Respekt vor dem Schönen. Nehmen wir ein Beispiel aus der Mode: Die Jogginghose als Straßenkleidung ist heute salonfähig. Ich finde das grauenhaft. Früher hat man Jogginghosen im Altersheim und im Krankenhaus gesehen oder beim Sport. Und vielleicht ist das auch in anderen Bereichen so. Es wird für Schönheit im Bauen, für Ästhetik in der Stadtplanung offensichtlich nicht mehr viel Geld ausgegeben, man investiert lieber in Breitband- oder Straßenausbau. Offensichtlich ist der Konsens darüber verloren gegangen, was schön ist und was nicht. Das ist eine gesellschaftliche Frage und vor allem eine Frage der ästhetischen Bildung und Erziehung.

Einerseits wollen Sie nicht, dass die Altstadt ein Freilichtmuseum wird, andererseits nehmen Sie Anstoß, wenn Menschen den Raum in einer Art und Weise nutzen, die ganz und gar nicht museal ist – zum Parken zum Beispiel oder um draußen Kaffee zu trinken. Ist das nicht ein Widerspruch?

Das kommt alles darauf an, wie die Dinge aussehen und wie sie sich in der Vordergrund drängen. Sehen Sie sich den Rindermarkt an – da wird die Schönheit des öffentlichen Raumes massiv beschädigt von den parkenden Autos und von jenen Gastronomen, die sich nicht an die Stadtbildsatzung halten. Das Gegenbeispiel ist der Domplatz, der seit jeher ein freier Platz von hoher geistlicher und geschichtlicher Bedeutung ist. Er hat einen anderen Charakter als etwa der Residenzplatz, der immer schon ein Marktplatz war. Genau am Domplatz gibt es ein Café, dessen Betreiber sich zeitweise auch nicht an die Stadtbildsatzung halten und der Schönheit den Respekt zollen will, den die verdient. Muss das sein? An der Innpromenade – von der auch manche neuerdings meinen, sie könnte weg – sind bei schönem Wetter hunderte Menschen unterwegs. Das ist doch belebt! Warum braucht man zusätzlich noch einen Jahrmarkt? Kennen Sie die Geschichte von Ferdinand Wagner?

Welche?

Ferdinand Wagner, der Maler, der u. a. als Schöpfer unserer Rathaussäle bekannt ist, hat das Niederhaus erworben und dort gewohnt. Und er hat gekämpft bis aufs Messer, als die erste Hängebrücke gebaut wurde. Sie war im Vergleich zur heutigen Brücke ganz bescheiden dimensioniert. Aber Wagner sagte, für ihn, den Künstler, zerstöre sie das Stadtbild. Er hat sich mit den damaligen Würden- und Verantwortungsträgern angelegt, aber die Brücke wurde trotzdem gebaut. Und was tat Wagner? Er sagte, Passau sei für ihn gestorben, verkaufte Niederhaus und war weg. Der Wagner war ein konsequenter Anhänger der Schönheit!

Konsequent ja – aber heute gehört die Hängebrücke ganz selbstverständlich zum Stadtbild und stört niemanden mehr.

Man hat sich arrangiert. Natürlich gehört die Brücke heute zur Stadt. Interessant ist jedoch, dass wir in einem überraschend lange dauernden Experiment nun feststellen, dass man sie für die Autos eigentlich gar nicht braucht.

Fällt Ihnen denn aus der jüngeren Vergangenheit der Stadtentwicklung ein Beispiel ein, das Sie positiv beurteilen würden?

Der Erhalt der historischen Substanz der Stadt, der ja wirklich gefährdet war: Der Dom galt in den 1920er Jahren als einsturzgefährdet, die Altstadt war heruntergekommen. Ein Freund, der Passau noch in den 1950er Jahren kannte, sagte einmal, er sei beeindruckt, welch helle und freundliche Stadt daraus geworden ist. Denn in den 50ern sei sie ein "verbrunztes Kaff" gewesen, so nannte er es. Dass Passau heute wieder so ansehnlich ist, das ist die große bewahrende Leistung. Was neu gebaut wurde, hat eher zum Gegenteil beigetragen. Die folgenreichsten Irrwege waren die Verkehrsplanung und der Hochwasserschutz ab den 1960er Jahren. Was an Wohn-, Büro- oder Geschäftshäusern gebaut wurde nach dem Zweiten Weltkrieg – davon ist nichts aussagekräftig, schön oder bedeutend genug, um einmal ein Denkmal zu werden. Oder fällt Ihnen etwas ein?

Kann man das jetzt schon sagen? Vielleicht wird die Neue Mitte in einigen hundert Jahren als besonders aussagekräftiges Denkmal des frühen 21. Jahrhunderts empfunden.

Es geht in diesem Zusammenhang nicht um Empfindung sondern um den objektiven architekturhistorischen Rang. Es geht auch darum, ob und wie das Quartier als sozialer Raum und Kommunikationsraum funktioniert. Und ich kann es nur wiederholen: Es gibt Kriterien für Schönheit, auch wenn der Konsens vielleicht verloren gegangen ist. Wenn man sich die Denkmäler jüngeren Datums in München ansieht, den Olympiaturm oder das sogenannte Hypo-Haus, das sind Marken. Das sind zurecht Denkmäler. In Passau – wie übrigens in fast ausnahmslos allen anderen Mittel- und Kleinstädten – fällt mir kein Nachkriegsbau ein, von dem ich sagen würde, das ist in seiner Aussage oder Funktion wirklich bedeutend und ganz besonders typisch für die Zeit. Noch einmal zum Konsens über Schönheit: Ich habe beispielsweise noch keinen getroffen, der von der Schönheit der Neuen Mitte begeistert war. Jedenfalls ein Minimalkonsens.

Stimmt, die breite Mehrheit findet die Neue Mitte eher nicht schön.

Eben. Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Das Gespräch führte Laura Lugbauer.